Man sagt, große Männer, deren Leben und Wirken Einfluß auf die Zukunft Tares hat, werden stets in dunklen und stürmischen Nächten geboren. Wenn dem nach dem Willen der Götter so ist, dann war Raziel von Vandrien eine Ausnahme.
Durch die Fenster der kleinen Hütte schien die warme Astraelsonne herein, und wären es nicht die Wehen und die stickige Luft gewesen, so hätten sicherlich die warmen Temperaturen ebenfalls für Schweißperlen auf der Stirn der werdenden Mutter gesorgt. Sie lag auf einem einfachen Bett, das ursprünglich in einer Ecke der kleinen Hütte gestanden hatte, nun jedoch ins Zentrum des Raumes verschoben worden war. Die Frau war sehr bleich, ihr Atem ging rasselnd und stoßweise. Von Zeit zu Zeit entfloh ein unterdrückter Schmerzlaut ihrer Lippen, und jedes Mal wenn das geschah, zuckte auch der gutgekleidete Mann zusammen, der – von einigen älteren Frauen des Dorfes zurückgehalten – am anderen Ende des Zimmers rastlos auf und ab ging und mehrfach Stoßgebete an die Herrin Vitama sandte. Unter normalen Umständen hätten die alten Weiber es niemals gewagt, dem Mann den Weg zu versperren, doch die Geburt eines Kindes war Frauensache, wie die Hebamme Lispeth verkündet hatte, und die anderen Frauen hatten zustimmend genickt.
Lispeth war eine erfahrene Geburtshelferin, und eine der ältesten Frauen des Dorfes noch dazu. Gerüchten zufolge hatte es in ihrer Anwesenheit noch nie eine Fehlgeburt oder gar ein tot geborenes Kind gegeben. Manche nannten sie darum eine Hexe; andere nannten sie von Vitama gesegnet. Unzweifelhaft war jedoch: Sie besaß die Gabe des Sehens. Jeder im Dorf wusste, dass die alte Lispeth die Zukunft voraussagen konnte – zwar nicht gezielt, und nicht sehr genau – doch war noch nie eine ihrer Prophezeiungen nicht in Erfüllung gegangen.
‚Aaaaah!‘ Schmerzgepeinigt schrie die Entbindende auf, und es bedurfte der ganzen Kraft dreier alter Weiber, den Mann davon abzuhalten zu ihr zu stürmen und dabei womöglich noch der Hebamme im Wege zu sein.
Als die Stunden der Qual für Vater und Mutter schließlich vorbei waren, hielt die alte Lispeth einen strampelnden Säugling in Händen, zwar über und über mit Blut verschmiert, doch augenscheinlich gesund und von gutem Wuchs. Vorsichtig versetzte die Hebamme dem Neugeborenen einen Klaps auf den Hintern, damit seine Lungen sich mit Luft füllen konnten und der kleine – denn das Kind war ein Junge – den Schmerz und die Strapazen seiner Geburt aus sich herausbrüllen konnte. Doch das Kind gab keinen Ton von sich. Stumm ließ es den Ersten, und auch die nachfolgenden vorsichtigen Schläge über sich ergehen. Das Kind weinte nicht.
Verblüfft, aber ob der glimpflichen Geburt erfreut, reichte die Hebamme das Kind seiner erschöpften, zerzausten, aber nichtsdestotrotz glücklich aussehenden Mutter. Nun endlich wurde auch der Vater zu Frau und Sohn gelassen, und er küsste erst Mutter, dann Kind überschwänglich, und dankte der Herrin Vitama für die Gesundheit beider. Die Hebamme währenddessen torkelte einige Schritte vom Bette zurück, fasste sich an den Kopf, und wären die anderen Weiber des Dorfes nicht gewesen, wäre sie wohl zu Boden gestürzt. ‚Rein!‘, hauchte sie mit Augen, in denen ausschließlich das Weiße zu sehen war, ‚Rein ist sein Herz… der Knabe… er wird… stets ein reines… Herz besitzen…nein… nein… gefährlich! Gefährlich!‘ Die letzten beiden Worte hatte sie geschrieen, doch Vater und Mutter waren viel zu sehr miteinander beschäftigt, um auf das zu achten was um sie herum vorging.
‚Einen starken Sohn hast du mir geboren, Amalia. Ich wünschte, er würde… ich wünschte er könnte bei mir bleiben.‘ Er berührte sie zärtlich an der Wange und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
‚Ihr wisst dass es nicht geht, Gunther. Eure Frau würde es niemals gestatten… und es wäre nicht gerecht wider eure anderen beiden Söhne.‘ Für einen kurzen Moment erstarb das Lächeln auf dem Gesicht des Mannes, wie bei einem Trunkenbold, dem auf der Höhe eines grandiosen Rausches plötzlich klar wird, dass zu Hause eine wütende Ehefrau auf ihn wartet.
‚Du hast recht,‘ sagte er zögerlich, ‚aber eines Tages-‚
‚Nein,‘ unterbrach sie ihn mit traurigem Lächeln im Gesicht, ‚versprecht nichts was Ihr nicht halten könnt, Gunther. Die Dinge sind, wie sie nun einmal sind… ich bin eine einfache Schneiderin, von niederer Geburt; und Ihr seid der Fürst von ganz Vandrien.‘
Wütend ballte der Mann die Hände zu Fäusten.
‚Es ist nicht gerecht, dass mein dritter Sohn, der Sohn den mir die einzige Frau geschenkt hat die ich aufrichtig liebe; dass dieser Sohn niemals sein Anrecht auf seinen Titel und sein Erbe erheben kann… und dass er mich niemals „Vater“ wird nennen können!‘ Seine Rechte krallte sich hilflos in das Holz das Bettes. Amalia nahm seine Hand, löste sanft ihren Griff und führte seine Rechte an ihre Wange. ‚Es ist, wie es ist,‘ sagte sie, ‚und wir beide wussten was wir tun.‘
‚Ja, das wussten wir,‘ sagte Fürst Gunther, und gab dem Neugeborenen, das nur sporadisch vom Blut seiner Mutter gereinigt worden war, einen Kuss auf die Stirn.
* * *
Bevor der Mann die Hütte verließ, überreichte er der Hebamme ein wahrhaft fürstliches Entgelt, und auch den anderen versammelten alten Frauen überreichte er eine ansehnliche Menge Geldes für ihre Hilfe und ihr Schweigen. Dann machte er sich, nach einer letzten Verabschiedung, auf den langen Weg durch die mittlerweile angebrochene Nacht nach Hause.
Die Weiber standen noch lange beieinander und Tratschen, und immer wieder wurde Lispeth bestürmt, sie möge doch erzählen was ihre seherische Fähigkeit ihr offenbart hatte. Doch die Alte blieb stumm. Schließlich gaben die Frauen es auf, nicht ohne den festen Vorsatz der Hebamme an einem der folgenden Tage ihr Geheimnis zu entlocken, und eine nach der anderen traten sie den Heimweg an. Als letzte verließ Lispeth selbst die Hütte, doch zuvor trat sie noch einmal an das Bett, um die schlafende Mutter und das Kind zu betrachten. Er hat noch immer nicht geweint, bemerkte sie. Eindringlich besah sie sich das Gesicht das Gesicht des Kindes. Der Junge hatte pechschwarze Augen, und irgendwie wirkten sie… traurig. Aber natürlich war das Unsinn… Du wirst allmählich alt, Lissi, sagte sie zu sich selbst, und machte sich davon.
Am nächsten Morgen kamen einige der Weiber schon frühmorgens an das Haus, wo die alte Hebamme alleine wohnte, seit ihre eigenen Kinder ausgezogen waren. Sie fanden die Türen verschlossen vor. Das verwunderte sie, denn es war im ganzen Dorf bekannt dass die alte Lispeth nicht mehr gut zu Fuß war, und kaum zehn Schritte gehen konnte ohne sich auf jemanden zu stützen. Also war es schnell beschlossen, dass der Dorfbüttel – ein dicker, fauler, aber gerade ob seiner Trinkfestigkeit im Dorf auch sehr beliebter Mann – kommen sollte um die Tür zu öffnen. Nach einigem Hin und Her gelang ihm das auch schließlich. Und so fanden die Frauen die alte Lispeth, noch die Kleider vom Vortage auf dem Leibe, in ihrem Bette liegend. Sie hatte die faltigen alten Knie an den Körper gezogen und hielt sie mit den Armen fest umschlungen. ‚Reines Herz, so rein!‘ murmelte sie immer wieder, nur unterbrochen durch kurze Anfälle von schwachsinnigem Lachen oder einem kindischen Greinen. ‚Reines Herz!‘.
Zwei Wochen später starb die alte Hebamme im Beisein ihrer drei Kinder. Manche im Dorf behaupteten, die alte Lispeth hätte auf dem Totenbett ihren Kindern noch geraten, nicht nur das Dorf, sondern das ganze Fürstentum zu verlassen und sich woanders niederzulassen. So genau konnte das später aber niemand mehr sagen, denn alles was die alte Frau in ihren letzten Wochen noch von sich geben konnte, klang wie das Geschwätz einer Schwachsinnigen. Und daher schenkte ihren Warnungen auch niemand Gehör.
***
Die Jahre zogen ins Land, und Vandrien, als eines der nördlichsten Lehen Galadons, blieb von den politischen Ereignissen des Königreiches weitgehend unberührt. Auf dem Thronberg – wie die Burg Fürst Gunthers im Volksmunde hieß – war es ruhig und friedlich. Die Ernten waren gut, die Kornspeicher gefüllt, und die warmen Astraeltage schienen jedes Jahr gewillt, den Astrael des vorigen Jahres noch zu übertrumpfen.
In diesen glücklichen Tagen wuchs der Junge zu einem ansehnlichen Knaben heran; ein wenig zu schmächtig und zu ernst für sein Alter, doch von hohem Wuchs und stattlich anzusehen. „Raziel“ hatte seine Mutter ihn getauft, und dieser Name sollte sein Segen und sein Fluch zugleich werden in seinem späteren Leben: Raziel, das bedeutete in der alten Sprache der umherziehenden Sakti-Zigeuner (diese Menschen, die dasselbe pechschwarze Haar zierte wie den Jungen, hatten Vandrien schon lange vor den später hinzugekommenen Galadoniern bewohnt) soviel wie „Rastloser Stern“ oder „Ruheloses Gestirn“. Und wer den Knaben kannte, der wusste dass der Name gut gewählt war: Schon von frühester Kindheit an war Raziel verschlossen und in sich gekehrt. Er schien in seiner eigenen Welt zu Leben, seinem eigenen kleinen, oder besser großen Reich, zu dessen verborgenen Pforten er ganz allein den magischen Schlüssel besaß. Oft beobachte ihn seine Mutter, wie er stundenlang ins prasselnde Feuer des Kamins starrte, oder wie er dem Sonnenuntergang beiwohnte, oder einfach nur mit geschlossenen Augen am Fenster stand, und hinauslauschte auf die Geräusche der Nacht.
Es ist nicht gerecht, dachte er bei sich, alle anderen Kinder im Dorf haben einen Vater… Nun gut, alle außer dem schwachsinnigen Theomer, von dem niemand so recht wusste wer die Eltern dieser umherstreunenden Tagediebs waren. Von Zeit zu Zeit war er einfach da, trieb sich im Dorf herum und erbettelte von den rechtschaffenen und arbeitenden Leuten etwas zu essen. Dann wiederum gab es ganze Wochen, in denen niemand den verwahrlosten Knirps zu sehen bekam; und wo er den eisigen Morsan verbrachte blieb sein Geheimnis. In gewisser Weise sind wir uns ähnlich, dachte Raziel, wir stehen beide abseits der anderen… er weil niemand ihn haben will, und ich… und ich weil… – weil du niemanden an dich heranlässt!, schalt ihn eine tadelnde Stimmte in seinen Gedanken. Doch warum sollte er auch? Die anderen Kinder in seinem Alter, um die sechs Götterläufe, interessierten sich nur für Streiche und dummes Zeug… tollten miteinander herum wie junge Hunde, die noch nicht durch die harten Schläge ihres Züchters Disziplin gelehrt worden waren.
Raziel aber war anders. Er wusste es. Irgendwie hatte er es immer gewusst. Er… gehörte einfach nicht hier her, er war kein Teil der Gemeinschaft. Die einzige Gesellschaft die er ertragen konnte und ertragen wollte, von seiner geliebten Mutter einmal abgesehen, waren seine eigenen Gedanken. ‚Du bist ein Träumer, Rasi‘, schimpfte Amalia ihren Sohn des öfteren, doch sie war nie wirklich wütend darüber. Im Gegenteil, manchmal hatte Raziel den Eindruck, dass seine Mutter irgendwie… unglücklich war, wenn sie ihn beobachte wie er lieber in einer stillen Ecke saß und grübelte, als mit den anderen Kindern zu spielen. Einmal, als Raziel sich von seiner Mutter verleugnen ließ und die zu Besuch gekommenen Jungen zum nächsten Haus weiterzogen, um ihre Ballspiel-Mannschaft zu komplettieren, hörte er Amalia sagen: ‚Es tut mir leid, dass ich dir nicht bieten kann was dir eigentlich zusteht, mein Sohn. Du hast ein besseres Leben verdient als das hier… aber trotzdem: Du musst dein Leben mit anderen Menschen teilen, nur so kannst du eines Tages glücklich werden.‘ Einen Moment dachte der Junge nach. ‚Aber ich teile mein Leben doch – mit dir!‘ erwiderte er dann trotzig.
‚Das ist nicht das was ich meine, mein Sohn,‘ sagte Amalia lächelnd, ‚du solltest dich mit vielen Menschen umgeben, die du liebst, nicht nur mit einem einzigen.‘
‚Aber… mit wem umgibst du dich denn sonst, außer mit mir und Onkel und Gunther?‘
Darauf glaubte der Junge Tränen in den Augen seiner Mutter glitzern zu sehen, und sie erwiderte nichts mehr. Bestürzt darüber, mit seiner Frage seine Mutter traurig gemacht zu haben, ging der Junge auf sie zu und umarmte sie. Eine einzelne, nasse Träne tropfte auf sein Handgelenk. Er drückte sie noch fester an sich und vergrub unglücklich den Kopf in ihrem weichen, üppigen, wunderbaren Haar.
* * *
‚Onkel Gunther!‘ rief Raziel erfreut, und wie ein Blitz überfiel er den älteren Mann mit dem dichten schwarzen Bart und bedachte ihn mit einer wilden Mischung aus neugierigen Fragen und sehnsüchtigen Blicken, nach Geschenken oder Mitbringseln Ausschau haltend. Soweit Raziel sich zurückerinnern konnte, war Onkel Gunther immer wieder vorbeigekommen; in manchen Wochen fast jeden Tag, in anderen wiederum gar nicht. Doch wann immer der stets lustige, stets gutgelaunte und leicht dickliche Mann die kleine Hütte besuchte, hatte er stets eine spannende Geschichte für den Jungen parat: Sagen von Helden wie dem großen Beowulf, oder von der verschollenen heiligen Stadt Sho’Kanam, oder von Thorn, der eigentlich Fürst von Vandrien hätte werden sollen, der jedoch zugunsten eines entbehrungsreichen Lebens als Paladin und Streiter der Götter auf den Thron verzichtet hatte.
Gebannt hing Raziel an den Lippen des älteren Mannes, und schien seine Worte in sich aufzusaugen wie ein hungriger Bär, der einen besonders schmackhaften Batzen Honig erbeutet hat. Nur selten wagte der Junge es, den Onkel zu unterbrechen um Zwischenfragen zu stellen; und meist war die Antwort auf diese Fragen so simpel, dass er sich schämte sie überhaupt gestellt zu haben.
Auch seine Mutter schienen die Besuche von Onkel Gunther zu freuen; ja, sie schien sogar förmlich aufzublühen wenn der gemütliche und leicht rundliche Mann zur Tür hereinkam, seinen schlichten aber stets absolut sauberen Hut und Mantel auf den kleinen Kleiderständer an der Wand hängte, und sich mit einem zufriedenen, erwartungsvollen Lächeln am Küchentisch niederließ. Manchmal hatte Raziel sogar den Eindruck, seine Mutter lebte nur für diese – viel zu kurzen – Besuche.
Soweit der Junge wusste, war Gunther ein Händler oder etwas ähnliches, drüben auf dem Thronberg, im Schloss des Fürsten. Was Raziel mit seinen acht Jahren jedoch nicht verstehen konnte, war dass Onkel und Mutter auch einige Zeit für sich allein sein wollten. Meist wurde er dann unter irgendeinem Vorwand fortgeschickt; sei es um bei der dicken Bäuerin vom Steuben-Hof Milch zu besorgen, eine Schneiderarbeit seiner Mutter auszutragen, oder einfach nur „mit seinen Freunden zu spielen“. Natürlich hatte Raziel keine richtigen Freunde im Dorf (einigen Kindern war von ihren Eltern verboten worden, mit dem verschlossenen und schweigsamen Jungen mit den pechschwarzen Haaren zu spielen; anderen war er schlichtweg unheimlich). Manche der älteren murmelten gar etwas von „gefährlichen Vorzeichen“ die über dem Jungen schweben würden. Raziel war es mittlerweile gewohnt, dass sämtliche Gespräche aufhörten wenn er hinzukam, und dass sie in verschwörerischem Flüsterton wieder aufgenommen wurden, sobald er sich entfernte. Es spielte keine Rolle für ihn. Wie gesagt war er es gewohnt, allein zu sein, und wollte es auch gar nicht anders haben.
***
Als Raziel das zehnte Lebensjahr erreichte, änderte sich sein Leben zum ersten Mal einschneidend. Denn der Fürst hatte beschlossen, dass in seinem Dorf eine Schule errichtet werden sollte; ein Unding, wenn man bedachte dass das namenlose Dorf geradeeinmal dreihundert Einwohner zählte, wovon allerhöchstens dreiundzwanzig Kinder im geeigneten Alter für die Schule gewesen wären. Da der Großteil der Jugendlichen jedoch von Kindesbeinen an zur Arbeit auf dem Feld oder im Handwerk der Eltern gebraucht wurden, war die Schule meist nur armselig besucht. Der einzige der nie einen Tag des Unterrichtes versäumte war – Raziel. Der Junge erlernte bei seiner Mutter das Schneiderhandwerk, und obwohl er sich darin nicht besonders geschickt anstellte, machte seine Mutter sich keine Sorgen um ihre Zukunft. An Geld schien es den beiden nicht zu mangeln, und obgleich sie in bescheidenen Verhältnissen lebten, so hatte Raziel doch niemals die wahre Bedeutung des Wortes Hunger kennen gelernt, ganz im Gegensatz zu manchen seiner Altersgenossen.
Der Lehrer, den der Fürst für das Dorf geschickt hatte, war ein zerstreuter Alter Mann namens Doktor Leomar. Sein Haar war längst aschgrau, und sein Gang von der Last unzähliger Jahre gebeugt. Wer ihn nicht kannte, konnte ihn ohne weiteres für einen senilen alten Greis halten. Doch wer in seine Augen blickte, wurde schnell eines Besseren belehrt. Aus Leomars Blicken sprachen Weisheit und Ruhe, und – auf eine kaum nachvollziehbare Weise – auch Erhabenheit.
Selten besuchten mehr als vier oder fünf Kinder zugleich an einem Tag den Unterricht des Doktors; und jene die es taten hatten oft Schwierigkeiten damit, so lange stillzusitzen wie der Doktor es verlangte; und eine Verkürzung der Unterrichtszeit kam für den alten Mann gar nicht in Frage. Auch hier war Raziel die Ausnahme: still und schweigend saß er jeden Tag stundenlang in der hintersten Ecke der kleinen Blockhütte (die früher einmal ein Kuhstall gewesen war und heute, nach gründlicher Säuberung, als Schule diente) und lauschte Aufmerksam den Ausführungen des Doktors.
Sei es durch den von seiner Mutter antrainierten Umgang mit Nadel und Faden, sei es durch natürliche Begabung: Es dauerte kaum ein Jahr, und Raziel hatte gelernt in durchaus leserlichen, kleinen Buchstaben zu schreiben, wofür ein großes Lob des Doktors bekam. Die Kunst des Lesens und Schreibens war etwas, das in seinem Dorf nach Raziels Wissen nur ganz wenige beherrschten, und die meisten davon auch nur mehr schlecht als Recht. Und auch das übrige Wissen, dass der alte Leomar zu lehren hatte, nahm Raziel freudig und bereitwillig auf und verinnerlichte es.
Hatte er früher nicht einen einzigen Freund besessen, so besaß er nun welche im Übermaß, denn jedes Buch, jedes Heft, jeder Fetzen kostbaren Papiers, das der Doktor ihm schenkte oder auslieh, studierte Raziel ganz genau. Papier und Buchstaben wurden seine Freunde, die Welt der alten Helden und ehrfürchtigen Gotteskrieger, von denen sie erzählten, wurden seine eigene Welt.
‚Siehst du, mein Junge,‘ sagte der Doktor einmal, als, wie so oft, nur Raziel in der Schule saß, weil gerade Erntezeit war und jede Hand auf dem Feld benötigt wurde, ‚wenn du drüben auf dem Thronberg wohnen würdest, hättest du bis an dein Lebensende genug Bücher zu lesen. Und nicht nur das…‘ Seine kratzige alte Stimme hatte einen merkwürdigen, bedauernden Klang, den Raziel noch nie bei dem alten Mann gehört hatte.
‚Gibt es denn wirklich so viele Bücher dort?‘ fragte er unsicher, denn der Junge konnte kaum glauben, dass irgendjemand so reich sein konnte, um sich ganze Regale voll Büchern leisten zu können!
‚Du wärst erstaunt, was es dort alles gibt, mein Junge… oh ja… sehr erstaunt wärst du…‘ und damit wandte der Doktor sich wieder der Erzählung von Eregon von Lichtenfels zu und las laut aus dessen „Zehn Regeln für ein göttergefälliges Leben“ vor. Denn auch die Religionskunde unterrichtete der alte Mann, und das war auch bitter nötig, denn abgesehen von einem in die Jahre gekommenen Laienpriester (von dem allgemein bekannt war, dass er dem Zylinthenschnapss und dem Vandrischem Schwarzbier nicht weniger als den Vieren huldigte,) befand sich der nächste Tempel der vier Götter erst drüben auf dem Thronberg – kaum zu erreichen für das einfache Volk, das bei Tage das Feld zu bestellen hatte und bei Nacht todmüde ins Bett fiel, um nach nur wenigen Stunden erholsamen Schlafes bereits wieder aufstehen musste, um sich um die Tiere zu kümmern.
‚… so schwor also auch Dernbohm, seinem Fürsten den Tardukai-Eid. Weißt du was es damit auf sich hat?‘ Die Geschichte des Doktors hatte den Jungen so fasziniert, dass es einen Moment dauerte ehe Raziel überhaupt realisierte dass er angesprochen war. Zaghaft schüttelte er den Kopf, noch immer unter dem bewegenden Eindruck der Geschichte des dicken Dernbohm uns des Fürsten Arcorius und ihrer tödlichen Feindschaft.
Doktor Leomar seufzte.
‚Das Bauernvolk hat sich so viele unnütze Märchen und dumme Hirngespinste und unkeusche Reimereien aus alter Zeit bewahrt, aber von der großartigen Geschichte ihres Landes wissen sie soviel wie die Schweine die sie hüten vom Fliegen wissen. Großer Astrael!‘ Der Doktor fuhr sich mit der Hand durchs schüttere Haar, ohne zu bemerken dass seine kalkweißen Hände helle Bahnen darin hinterließen. ‚Also gut Junge, hör mir zu – und damit meine ich: Hör mir noch besser zu als sonst; ich weiß du bist sehr begierig zu lernen, und ich freue mcih einen Schüler wie dich in diesem Dorf zu haben; aber jetzt hör mir zu! Diese Erzählung ist wahr, sie ist wichtig, und du darfst sie niemals vergessen. Verstehst du mich?‘
Mit einer Mischung aus Überraschung und so starker Neugier, dass jede verstreichende Sekunde ihm schier körperlichen Schmerz bereitete, nickte der Junge heftig.
‚Das ist gut, sehr gut Raziel,‘ hob der Doktor schließlich an. ‚Unsere Erzählung spielt zur Zeit der streitenden Grafschaften, also vor über dreihundert Jahren. Damals war das Reich noch nicht geeint, so wie heute, sondern es war in zahllose kleine Reiche zersplittert. Hier im Norden, dem Gebiet welches heute Gunthers Vandrien ist, gab es sieben Grafschaften, die von alten, sich befehdenden Familien gelenkt wurden. Der Konflikt zwischen ihnen schwelte über viele Generationen hinweg, und niemand wusste damals überhaupt noch zu sagen, warum zum Beispiel die Vagoringer sich mit den Palistern überworfen hatten, oder die Familie der Ramadons mit dem Haus Skoggereg. Zu der Zeit, von der ich dir erzählen will, lebte ein junger Graf namens Aarion. Aarions Vater und Mutter waren früh gestorben, und so wurde er noch vor der Mannbarkeit zum Grafen des Hauses Wolfsmärker. Doch Aarion hatte auch noch drei jüngere Geschwister: zwei Brüder, Geruslav und Arnhorte, ehrenhaft und stark; und eine Schwester, Neraja, von innen wie von außen einer Göttin gleich. Obgleich Aarion zwar der Form nach der einzige Herrscher der Wolfsmark war, regierten sie sie dennoch gemeinsam; und unter der umsichtigen Herrschaft der Geschwister wurde die Wolfsmark bald zur zweitreichsten und mächtigsten Grafschaft. Als Neraja ins heiratsfähige Alter kam, hielt der Graf von Ramadon, der mächigste Nachbar der Wolfsmark, um ihre Hand an, die sie ihm – mit dem Segen ihrer Brüder – auch gerne gewährte. Das neue Band, das zwischen Ramadon und der Wolfsmark bestand, hätte ein Garant für den Frieden in Vandrien werden sollen, und führte doch zu einem grausigen Blutvergießen… doch ich greife vor.‘
Wie gebannt hing Raziel an den Lippen des alten Mannes, während seine inneren Augen, beflügelt von seiner unbändigen Fantasie, Doktor Leomars Geschichte für ihn zum Leben erweckten.
Während Geruslav und Arnhorte ledig blieben, und auf ihre Art beide dem Wohlstand und der Gerechtigkeit in der Wolfsmark dienten, freite Aarion nur wenige Monde nach der Hochzeit seiner Schwester sein Weibe, eine Gemeine aus einem seiner Dörfer. Damals gab es noch keine Erbregelung, die es ihm verboten hätte eine aus dem Volke zu freien, musst du wissen. Sie gebar ihm einen Sohn – Shiion, der später der erste vandrische Fürst werden sollte… doch ich bin schon wieder zu weit. Als Aarions Haar die ersten grauen Stoppel zeigte, starb Hostan, der Graf der Palister, ohne einen Erben zu hinterlassen. Auf dem Rat der Grafen wurde besprochen, was mit der herrenlosen Grafschaft zu sei. Ein jeder der Fürsten erhob Anspruch auf die Ländereien, und so kamen die hohen Herren überein, dass man ein Turnier veranstalten wolle, auf dass Bellum selbst auswählen möge welcher der sechs Grafen der neue Herr über Palister werden und somit an Macht gewinnen sollte.
***
Das große Turnier der sechs Streiter fand in Ramadon statt – am Hofe von Aarions Schwester Renaja und ihres Gatten – und Aarion war es auch, der all die anderen Fürsten beschämte, indem er selbst als einziger darauf verzichtete, einen seiner Getreuen zu seinem Streiter zu ernennen. Denn der Graf der Wolfsmark hatte seinem Weibe und seinem Sohn in der Heimat versprochen, bei diesem Turniere selbst das Schwert zu führen, auf dass sie stolz auf ihn sein sollten. Vielleicht war es Hochmut, der ihn antrieb, vielleicht Ehrgeiz oder das Verlangen nach Ruhm. Vielleicht wollte er auch einfach nur dem Herren Bellum beweisen, dass er würdig war. Auf jeden Fall trat Aarion selbst in der Turnei an; und tatsächlich schien der Gott des Krieges und der Ehre gefallen an ihm gefunden zu haben, denn der Wolfsmärker gewann einen jeden Waffengang gegen seine meist viel kampferprobteren Gegner. So kam es, dass er als letzten auch den ramadonischen Recken in den Staub zwang, und Aarion unter dem Jubel der Menge und seiner mitgereisten Brüder zum Sieger des Turnieres, und zum neuen Grafen über die Wolfsmark und Palister ernannt wurde. Das Fest zu seinen Ehren war gewaltig, ebenso wie die Gastfreundschaft Nerajas und ihres Gatten. Die meiste Zeit jedoch verbrachte Aarion mit seinem Neffen; dem Sohn der holden Neraja und zukünftigen Herrn über Ramadon.
Das Glück schien ihm hell zuzulächeln. Aber ich sage dir etwas, was du dir gut merken solltest Raziel: Dort, wo viel Licht hinscheint, vermögen selbst die kleinsten Dinge, einen gewaltigen Schatten zu werfen… hast du verstanden?‘
Nein, Raziel hatte nicht verstanden was der alte Doktor meinte; dennoch nickte er brav, auf dass er bald mit dem Erzählen der Geschichte fortfahren möge. Leomar sah den Jungen einen Moment lang prüfend an, zog dann zweifelnd eine weiße Augenbraue hoch und fuhr mit seinen Ausführungen fort.
‚Das Turnier war also beendet, und der Tag von Aarions offizieller Ernennung rückte näher. Der Graf konnte es kaum noch erwarten – nicht der Ehrung willen, sondern weil er den tiefen und aufrichtigen Wunsch verspürte, nach Hause zu Frau und Kind zurückzukehren, um ihnen von seinem Siege zu erzählen. Und dennoch sollte er sie niemals wiedersehen.
Es begab sich in der Nacht vor der Ehrung, dass Aarion seinen Neffen bei der Hand nahm, und mit ihm einen Abendspaziergang auf den Zinnen des Schlosses machte. Dabei jedoch wurden sie – wie man es sich heute verzählt – von bestochenen Wachsoldaten überfallen. Der junge Grafensohn wurde die Zinnen hinab in den Burghof gestoßen, während Aarion niedergeschlagen ward. Eilends waren der Herr und die Herrin zur Stelle. Und noch während sie um ihren toten Sohn weinten, trug man ihnen die Nachricht zu, der Onkel des Kindes habe es in einem Anfall großer Wut die Zinnen hinabgestoßen. Diese Verleumdung, aus dem Munde vieler Zeugen, ließ in Neraja einen wahrhaft fürchterlichen Hass aufwallen, und sie befahl ihren Bruder in Ketten zu legen. Getroffen vom Gang der Ereignisse ließ Aarion es mit sich geschehen, wenngleich Geruslav und Arnhorte ihrer Schwester gut zuredeten. Doch das Herz der Gräfin war versteinert aus Trauer um ihren Sohn. So kam es, dass drei Tage später, nach nur kurzer Verhandlung, in welcher Aarion stets seine Unschuld beteuerte, der Richtblock auf ihn wartete.
In jenen Stunden, bevor das Henkersbeil dem Leben des großen Aarion ein Ende setzte, kamen Arnhorte und Geruslav ein letztes Mal zu ihm.
Bruder, sprach der starke Geruslav, sorge dich nicht, denn wir und alle anderen, welche wir mit dir angereist sind, werden nicht zulassen dass sie dich töten.
Bruder, sprach der listige Arnhorte, sorge dich nicht, denn wir haben einen Plan ersonnen um dich freizukämpfen, denn keiner von uns glaubt wahrhaftig dass du solch feigen Mord begangen hast.
Aarion aber lächelte sie traurig an und sagte zu ihnen: Recht habt ihr, unschuldig bin ich am Tod des Knaben. Und doch bin ich schuldig daran…hätte ich nicht den großen Ruhm begehrt, hätte ich nicht die anderen Grafen beschämt; all dies wäre nie passiert. Dies ist die gerechte Strafe für meinen Hochmut, darum verdiene ich was mir bevorsteht. Doch wollt ihr mir einen letzten Wunsch gewähren?
Da wurden die Brüder traurig, und sie beeilten sich ihm zuzusagen. Wir werden tun was immer du wünschst.
Ich wünsche nur drei Dinge, sagte Aarion der Große, zum Ersten dass ihr stets für mein Weib und meinen Sohn sorgen werdet, bis er alt genug ist meinen Platz einzunehmen. Zum zweiten, dass ihr den Meinen berichtet, dass der Junge nicht durch meine Hand den Tod gefunden hat, sondern durch üble Ränkeschmiederei. Und zum dritten – darum bitt‘ ich euch im Namen unsrer Brüderschaft inständig – dass ihr mich zu Hause in der Wolfsmark zur Ruh‘ bettet, auf dass ich aus Morsans Hallen über die Meinen wachen kann.
Bewegt von der Größe ihres Bruders brachen Geruslav und Arnhorte in Tränen der Rührung aus, und bei ihrem Leben schworen sie, Aarions Wünsche zu befolgen. Noch in derselben Stunde wurde Arnhorte bei Neraja vorstellig, um ein letztes Mal für das Leben seines Bruders zu werben, oder doch zumindest einen Aufschub zu erhalten, doch die Gräfin, trunken vor Hass und Verzweiflung, sandte ihn fort.
Als sie Aarion zum Richtblock führten, hielt er den Kopf hoch erhoben; ein Gebet an den Herren Bellum auf den Lippen, doch ohne ein Zeichen von Furcht. Seinen Weg säumten fünfzig Mann; das Gefolge mit dem er angereist war; darunter dreißig der tapfersten Ritter der Wolfsmark. Viele von ihnen hatten die Hand am Schwerte, doch wenn der Graf an ihnen vorüberging lächelte er nur beschwichtigend und schüttelte den Kopf. Diese Augen wollen nicht sehen, wie jemand das Schwert gegen Unsere Schwester erhebt.
Als Neraja dem Henker das Zeichen gab, wandten Aarions Männer sich bekümmert ab. Nur Geruslav, der Bär, fand das Herz den Tod seines Bruders anzusehen, und was er sah grämte ihn zutiefst.
Als des Aarions Kopf blutend im Korb des Henkers lag, zog ein Gewitter auf; aus heiterem Himmel. Und man erzählt sich, dass Donnergrollen den Himmel erfüllte. Heute wird es als Zeichen Bellums anerkannt, dass der Gott des Krieges und der Ehre sein Augenmerk auf jenen, seinem Auge ungewöhnlich wohlgefallenden Menschen richtete, der dort sein Leben aushauchte. Die Leute aus Ramadon jedoch schrieen Hexerei, Hexerei! Angamonswerk! Und so gab die Gräfin Befehl, den Leichnahm des Grafen zu verbrennen. Da aber entsannen sich Geruslav und Arnhorte ihres Schwurs, dass ihr Bruder in heimischer Erde zur Ruhe gebettet werden sollte; und als Neraja wiederum nicht ihrem Bitten folgen wollte, da fuhren die Schwerter aus der Scheide, und mit ihnen fünfzig weitere. Umringt von zehnmal mehr Männern, als sie selbst aufzubieten hatten, nahmen Aarions Gefolgsleute den Leichnahm ihres gefallenen Herrschers in die Mitte und verteidigten ihn knurrend; wie ein Hund der seinem toten Herrn nicht von der Seite wich und nicht zuließ dass sich wilde Tiere an ihm vergingen.
Des Kindermörders toter Leib soll verbrannt werden, sprach die Gräfin, auf dass von ihm kein Schaden mehr drohe. Arnhorte der Kluge aber trat vor, verneigte sich vor seiner Schwester und sagte:
Hier stehen wir, eine halbe Hundertschaft unwürdiger Diener eines großen Mannes. Viel hat er erduldet aus Liebe zu dir und deinem toten Sohn, an dessen Tod ihn keine Schuld trifft. Seinen Leichnam jedoch geben wir nicht der Schändung Preis. „Mena rech ekh Bennain – tora dolmon ekh got deskos Tardukai!“, sprach er, denn der Gebildete sprach auch die alte Zunge Vandriens: „Niemals werden wir weichen – wir, die wir die Treuesten der Treuen sind!“
***
Da befahl die wahnwitzig gewordene Gräfin, all jene zu erschlagen die Aarion auch weiterhin die Treue halten wollten; allen die das Schloss jedoch friedlich verließen wollte sie nichts zu leide tun. Da hießen Arnhorte und Geruslav ihre Begleiter, das Schloss zu verlassen. Einzig unsere Aufgabe ist es, unseren Bruder zu beschützen. Wir wissen dass ein jeder von euch ihm im Herzen treu ergeben ist – doch sollt ihr nicht hier mit uns harren und sterben. Geht und berichtet zu Hause von den Dingen, die sich hier zutrugen. Und von den fünfzig Gefolgsleuten verließen jene zwanzig, welche in ihrem Leben noch kein Schwert geführt hatten, mit gesenktem Haupte den Haufen um das Schloss zu verlassen. Von den dreißig Rittern der Wolfsmark jedoch rührte sich nicht einer vom Flecken. Wir werden nicht verlassen die Seite unseres Herrn, sagten die Ritter, denn in seinen Worten erhob Herr Arnhorte uns zu den Treuesten der Treuen, Tardukai, und so wollen wir uns dieses Titels für würdig erweisen! Wir leben und wir sterben für unseren Herrn! Bei diesen Worten jubelten die Herzen der Wolfsmärker, und auch jene die sich abgewandt hatten um zu fliehen hörte die Worte der Ritter, und nicht einer unter ihnen setzte seinen Weg fort; nein, ein jeder von ihnen drehte sich um und trat zu den tapferen Recken um den toten Aarion. Da trat Geruslav der Bär vor und rief seiner Schwester zu: Dreiundfünfzig Wolfsmärker Adlige, Ritter und Gemeine waren wir als wir anreisten – als dreiundfünfzig Wolfsmärker Brüder werden wir diesen Ort wieder verlassen, oder gemeinsam den Bruder Morsan hier umarmen! Und ihnen allen jubelte das Herz ob der Treue und der Männlichkeit.
Neraja befahl den ramadoner Soldaten die Wolfsmärker niederzuringen, doch nun schritt ihr Gatte ein und hieß seine Männer, die Wolfsmärker in Frieden ziehen zu lassen. Vielleicht haben wir unrecht gehandelt unter der Last der Trauer, denn ein Mann dem seine Gefolgsleute so sehr die Treue halten, kann kein Unmensch gewesen sein. Zieht in Frieden, Wolfsmärker, und tragt euren Herrn mit euch wie es sein Wunsch war.
Seine Gemahlin sprach von Stund an kein Wort mehr, und wenige Tage später stürzte sie sich von den Zinnen des Schlosses, an eben jener Stelle an der ihr geliebter Sohn den Tod gefunden hatte. Die Wolfsmärker aber nahmen Aarions Leichnam auf die Schultern und trugen ihn im Ehrenzug nach Hause.
Doch war damit Geruslavs und Arnhortes Schwur noch nicht zu Ende, denn ab diesem Tage kümmerten sie sich um Weib und Sohn des Grafen, und mit ihrer Hilfe und durch Bellums Segen – und vielleicht auch durch das wachende Auge seines Vaters – sollte Aarions Sohn Shiion der erste Fürst von Vandrien werden, denn ihm gelang es erst mal die streitenden Grafschaften zu vereinen. Und so regiert Aarions Haus noch heute auf dem Thronberg, auch wenn die Tradition des Tardukai-Eides seit der Einigung von Galadon nicht mehr praktiziert wird.‘
Als der alte Doktor mit seiner Erzählung geendet hatte sah er den Jungen erwartungsvoll an. ‚Nun, Raziel, hast du aus dieser Geschichte etwas gelernt? Zum Beispiel dass blinder Hass und ziellose Rachsucht nur Unglück bringen? Dass wahre Größe nicht mit dem Schwert errungen wird?‘
Der Junge überlegte eine Weile was er erwidern sollte. Dann hatte er schließlich die richtige Worte gefunden.
‚Ich habe gelernt‘, sagte Raziel mit Bestimmtheit, ‚dass der Treueste der Treuen am Ende seine Belohnung bekommt…‘
Doktor Leomar schluckte schwer und zeigte einen enttäuschten Gesichtsausdruck. Dann versuchte er ein Lächeln, doch es wollte ihm nicht so recht gelingen. ‚Ja, Raziel, vielleicht kann man auch diese Lehre daraus ziehen… vielleicht auch diese Lehre…‘
* * *
Einige Tage vor Raziels vierzehntem Geburtstag ereignete sich ein weiteres wichtiges Erlebnis in seinem noch jungen Leben.
Schon seit einigen Wochen war Onkel Gunther nicht mehr zu Besuch gewesen; länger als je zuvor. Nicht nur Raziel, sondern auch seine Mutter begannen, sich um ihn zu sorgen; umso mehr, als Raziel von Doktor Leomar erfuhr, dass es wohl eine schreckliche Feuersbrunst auf dem Thronberg gegeben hatte, bei der viele Menschen in den Flammen den Tod gefunden hatten. Während er zusah, wie seine Mutter jeden Tag ein bisschen trauriger und ängstlicher wurde, wuchs in Raziel der Plan, zum Schloss hinüberzureisen um selbst nach dem Rechten zu sehen. Denn, so überlegte er, so wie in seinem Dorf jeder jeden kannte, so würde es sicherlich auch im drei Tagesmärsche entfernten Dorf sicherlich jemanden geben, der ihm den Weg zu Onkel Gunthers Haus weisen konnte.
Mit einem erleichterten Seufzen ließ Raziel den schweren Rucksack auf sein Bett krachen. Zufrieden überprüfte er, mittlerweile sicherlich zum Hundersten Mal, die „Reisesausrüstung“, der sich für den morgigen Tag zusammengestellt hatte: Ein halber Laib Brot, etwas Käse vom Steuben-Hof, die guten Feiertagsschuhe und ein Kamm aus Fischgräten (für den Fall dass seine Alltagssandalen unterwegs das zeitliche segnen sollten, außerdem wollte er ja nicht wie ein armer Dummkopf vom Lande aussehen, wenn er in die große Stadt kam), zwei abgenutzte Feuersteine, die er beim dicken Trödler gegen eine hübsche Stickarbeit seiner Mutter getauscht hatte; seine zusammengerollte Bettdeckte, und zuoberst sein ganz besonderer Schatz: Eine „Karte“ des Fürstentums Vandrien. Natürlich war es keine richtige Karte, sondern lediglich eine krakelige Kopie der großen Karte in Doktor Leomars Buch über die Geschichte Galadons, doch Raziel wachte mit Argusaugen über seinen Schatz und zeigte ihn niemandem, seine Mutter einmal ausgenommen. Allerdings war die Karte wohl auch kaum notwendig, wir der Junge wusste, denn es war ja nun nicht gerade so als ob es mehr denn die eine und einzige Straße in der Umgebung gegeben hätte, die die Steuereintreiber jeden Bellum befuhren und die direkt vom Dorf zum Thronberg führte.
Zufrieden schälte er sich aus seinen Kleidern und legte sich zum Schlafen, mit dem festen Vorsatz am nächsten Tag noch vor Morgengrauen in sein großes Abenteuer aufzubrechen. Seiner Mutter hatte er selbstverständlich nichts davon gesagt – sie würde sich nur unnötige Sorgen machen; außerdem, so überlegte er, wäre er sowieso längst wieder zurück bevor es Abend werden würde. Denn wie groß konnte die Welt außerhalb des Dorfes schon sein?
* * *
Die ersten Lichtstrahlen des neuen Tages fanden den jungen Raziel bereits ungeduldig am Fenster stehen. Vitama weiß er hatte versucht zu schlafen, aber irgendwie war er die ganze Nacht hindurch wachgelegen und hatte sich unruhig von einer Seite auf die andere gewälzt. Noch bevor die Morgendämmerung richtig eingesetzt hatte, war der Junge – den Rucksack geschultert, und um möglichst leise zu sein mit blanken Füßen – aus dem Haus geschlichen.
Vor der kleinen Hütte blieb er stehen, sog begierig die frische Luft ein und warf noch einen letzten Blick zurück. Seine Mutter würde ihn vermissen, und Raziel hatte ein sehr schlechtes Gewissen sie einfach so für einen – oder gar zwei! – Tage allein zu lassen; aber letzten Endes tat er es ja alles für sie, weil sie doch so furchtbar traurig war seit Onkel Gunther nicht mehr zu Besuch kam! Entschlossen zerrte er den Rucksack zurecht und ging los.
***
Raziel folgte dem Lauf der Straße durch das kleine Dörfchen, vorbei an Jaldricks Schmiede und dem „Wandersruh“, der einzigen Taverne im Umkreis weiter Meilen. Von Zeit zu Zeit blickte der Junge nervös über die Schulter zurück, doch der befürchtete Verfolger, der ihn zurückholen sollte, war nirgends zu sehen. Zufrieden mit dem Beginn seiner Wanderung kramte Raziel eine Weile ungeschickt in seinem Rucksack, bis sich seine Hände schließlich um die lange Rolle schlossen die er gesucht hatte. Vorsichtig zog er sie hervor und entrollte das spröde Papier, bis er die grobe Karte des Fürstentums vor der Nase hatte (nicht dass ihm all die fremden Namen und Orte darauf irgendetwas gesagt hätten, von der groß eingezeichneten Krone, die den Thronberg symbolisierte, einmal abgesehen; doch es fühlte sich einfach irgendwie… richtig an, die Karte zur Hand zu nehmen).
Wäre der Junge nicht so in die Karte vertieft gewesen, hätte er dem Verhängnis vielleicht noch ausweichen können.
Ohne auf die Straße vor sich zu achten, mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen im Nacken, schlenderte Raziel auf der engen Steuerstraße dahin, und bemerkte die heransausende Kutsche erst, als es fast schon zu spät war. Vor Schock wie gelähmt blieb Raziel zwischen zwei Herzschlägen einfach stehen und starrte auf die beiden gewaltigen, schwarzen Rösser die mit atemberaubender Geschwindigkeit auf ihn zukamen. Der Kutscher stieß einen unbeherrschten Fluch aus, der sich nahe an der Grenze zur Blasphemie bewegte, und riss die Zügel zurück um die Pferde zu bremsen. Dennoch hätten die Tiere den Jungen einfach unter ihren Hufen zermalmt, wäre nicht im allerletzten Moment die Erstarrung von Raziel abgefallen. Mit einem gewagten, verzweifelten Sprung hechtete er zur Seite, wobei der Rucksack, den er nur lose über einer Schulter getragen hatte, sich löste und vor die Räder der Kutsche fiel. Ein bedrohliches, ganz und gar nicht gutes Knacken ertönte.
Unter lautem Wiehern, von noch lauteren Flüchen übertönt, kam die Kutsche einige Dutzend Schritt weiter zum Stehen, und ein Soldat der neben dem Kutscher gesessen hatte sprang behände vom Kutschbock. Die Hand am Schwertgriff blickte er sich rasch nach allen Seiten um, doch der Angriff, auf den er halb gewartet zu haben schien, blieb aus.
Verstört und mit zitternden Fingern löste Raziel die Schnallen, die die Überreste seines Rucksacks verschlossen hielten, und entleerte seinen Inhalt auf die staubige Straße. Tränen schossen ihm in die Augen, als sein Blick auf die käseverschmierten Feiertagsschuhe und den völlig zerbröckelten Kamm fielen. Wie lange hatte seine Mutter gearbeitet um ihm die guten Schuhe kaufen zu können? Mit einem Knoten von beachtlicher Größe im Magen steckte er die Karte, die er noch immer umklammert hielt, in seinen Gürtel und versuchte erfolglos die Schuhe zumindest vom gröbsten Schmutz zu befreien.
„He du kleine Ratte!“ Ein tritt in den Rücken ließ Raziel vornüber auf die Straße stürzen, „Was sollte das? Verdammtes Bauern-Balg, willst du uns umbringen?“ Der Soldat trat nochmals nach dem Jungen, und seine schweren eisenbeschlagenen Stiefel trieben Raziel die Luft aus den Lungen. Dann packte er den am Boden Liegenden und zerrte ihn an den Haaren in die Höhe.
„Dir hat’s wohl die Sprache verschlagen, was? Wie heißt du, Früchtchen?“ Rücksichtslos schüttelte der Soldat den Jungen, der ihm gerademal bis zur Hüfte reichte. Als Raziel nicht sofort antwortete, ließ der Mann seine behandschuhte Rechte zu einer gewaltigen Ohrfeige herabfahren.
Der Junge, plötzlich aus dem Griff befreit der ihn auf den Beinen gehalten hatte, taumelte zwei, drei Schritte rückwärts und stolperte schließlich abermals zu Boden. Noch immer war der introvertierte Raziel so verstört, dass kein Wort der Rechtfertigung über seine aufgesprungen blutenden Lippen kommen wollte.
„Hauptmann, lasst diesen Trampel in Ruhe und steigt wieder auf die Kutsche! Wir wollen nicht zu spät zur Trauerfeier kommen!“ Die befehlsgewohnte Stimme gehörte einem jungen Mädchen, kaum älter als vierzehn, das sich aus dem Fenster der Kutsche herauslehnte und mit ungehaltenem Gesichtsausdruck zu dem Soldaten und dem ärmlichen Jungen hinüberblickte.
Der angesprochene Hauptmann jedoch schien den Befehl seiner Herrin nicht gehört zu haben – oder wollte ihn schlichtweg nicht gehört haben. Auf jeden Fall ließ er sich vor Raziel auf die Knie herab und zog ihn am Kragen wieder auf die Beine. Irgendwo am Rande seines Bewusstseins nahm der Junge einen penetranten Geruch nach Wein und billigem Schnaps wahr.
„Ich wird‘ dich lehren auf die Straße zu achten,“ knurrte der Ältere; „wenn ich mit dir fertig bin wirst du nicht mal mehr-“ ein Blick in Raziels Augen ließ ihn jäh verstummen. Eigentlich hatte er erwartet, dort ein paar Hosenscheißer-Tränen zu sehen, doch die Augen des Jungen waren so klar wie ein Gebirgsbach oder ein frisch gebrannter Tropfen Schnaps. Mehr noch: in den Augen des Jungen stand blanker Hass geschrieben, in einer furchtbaren Reinheit die der Hauptmann nicht einmal im Wahnsinn einer Schlacht bei seinen Feinden gesehen hatte. Diese unheimlichen, alles durchdringenden dunklen Augen, kaum weniger schwarz als das Haar des jungen, schienen bis auf den Grund seiner Seele zu blicken, und sie setzten dort irgendetwas in ihm in Brand…
Als wäre er aus einem Traum erwacht schüttelte der Soldat benommen den Kopf. Er verstand nicht was da gerade passiert war – hatte der kleine Hosenscheißer ihn verhext? War er gar mit Dämonen im Bunde? „Du bellumverfluchte Kreatur, ich wird‘ dich lehren was es heißt sich mit Heyrdan von der Unauer Garde anzulegen!“ Und abermals schlug er auf den Jungen ein, diesmal ohne Rücksicht zu nehmen.
Raziel hob nur schwach die Arme um sich vor den Schlägen zu schützen, die sich wie Hammerschläge anfühlten. Irgendwo, ganz tief in seinem Innersten, begann sich etwas zu sammeln; etwas warmes, heißes, ein Feuer das ihn von innen heraus verzehrte. In ihm brodelte der Hass auf den Mann vor ihm, und mit jedem Schlag, mit jedem bisschen Schmerz das er erdulden musste, wuchs diese Flamme in ihm. Und Raziel, der noch nie wirklichen Hass oder auch nur Zorn empfunden hatte… er genoss diese neue Emotion. Sie entschädigte ihn in gewisser Weise für den Schmerz, den er zu erdulden hatte.
Dann, ganz unvermittelt, hörten die Schläge auf. Mit dem rechten Auge (das Linke fühlte sich ganz dick an und wollte sich nicht so recht öffnen) sah er den Soldaten, auf dessen Gesicht ein verblüffter Ausdruck stand. Langsam, so als würde er sich schlafen legen, kippte der Mann nach vorne und begrub den Jungen unter seinem massigen Leib. Hinter ihm erspähte Raziel mit seinem einen Auge eine zierliche Gestalt, die sich dunkel gegen die aufsteigende Vormittagssonne abzeichnete.
„Wenn ich das nächste Mal einen Befehl gebe, wirst du ihn sicherlich umgehender ausführen,“ meinte das Mädchen lapidar, und warf den fast faustgroßen Stein, den sie in der Hand gehalten hatte, achtlos hinter sich auf die Straße. „Kutscher! Ladet diesen Kerl auf den Kutschbock und sorgt dafür dass er wieder zu sich kommt! Ich werde noch viel Vergnügen damit haben, ihn die Disziplin meines Vaters zu lehren!“, sagte sie eisig und wandte sich ab, um zur Kutsche zurückzugehen. Der Kutscher – ein gebeugter Mann mit einem von Pockennarben entstellten Gesicht – beeilte sich von seinem Kutschbock abzusteigen und unter vielen Verneigungen und einem gekrächzten „Ja, Prinzessin Anara!“ den Befehl seiner Herrin auszuführen.
Mit einiger Anstrengung – und alles andere als sanft – hievte der einen guten Kopf kleinere Kutscher den schweren Soldaten von Raziel herunter und schleifte den Bewusstlosen zur Kutsche zurück. Raziel jedoch starrte zutiefst verwirrt auf seine Retterin im schwarzen Rüschenkleid, die sich mittlerweile bereits daranmachte, mit einem gekonnten, wenngleich auch wenig damenhaften Schwung in die Kutsche zu steigen, die an der Seite von einem großen blauen Schwan auf weißem Grund geziert wurde. Als die Prinzessin (war er wirklich gerade einer richtigen Prinzessin begegnet?!) die Tür hinter sich schloss, glaubte Raziel für einen Moment, noch eine zweite Gestalt in der Kutsche zu erkennen; ein weniger größer als das Mädchen das ausgestiegen war, doch von mindestens ebenso zartem Wuchs…
Unter teils heftigen Flüchen gelang es dem Kutscher schließlich, den Hauptmann zumindest soweit wach zu bekommen, dass der völlig umnebelte Kerl aus eigener Kraft auf den Kutschbock klettern konnte. Noch immer mit diesem seltsamen Brennen im Inneren richtete Raziel sich auf, ungeachtet der Wellen des Schmerzes die ihn überfluteten. Irgendwie gelang es ihm, aufrecht zu stehen, als die Kutsche sich langsam in Bewegung setzte und allmählich an Fahrt gewann. Für einen Moment, kurz bevor der blaue Schwan einer Biegung des Weges folgte und aus seinem Sichtfeld verschwand, glaubte Raziel ein zierliches Gesicht zu sehen, das – umrahmt von blonden Locken – neugierig aus der Kutsche zu ihm zurückstarrte. Dann war das Gespann fort, und heftiger Schwindel zwang den Jungen sich wieder zu setzen.
***
Später konnte er nicht mehr sagen wie er nach Hause gekommen war. Das nächste, woran Raziel sich erinnerte, war der halb besorgte, halb erleichterte Ausdruck im Gesicht seiner Mutter, die mit einem nassen Tuch seine Züge abtupfte und mit prüfenden Fingern das geschwollene Auge untersuchte.
„Was hast du dir nur dabei gedacht“, sagte sie kopfschüttelnd, doch zu Raziels Erleichterung waren in ihrer Stimme kaum Spuren von Ärger zu hören.
„Ich wollte… Au! Das tut weh, Mama!“ Erbost über das gespielt mitleidige Lächeln seiner Mutter schob der Junge die Unterlippe nach vorn und gab ein unwilliges Brummen von sich, während sein Gesicht bereits begann sich blau zu verfärben an den Stellen wo der Stiefel des Soldaten ihn getroffen hatte.
„Ich wollte doch nur nach Onkel Gunther suchen… ich weiß doch wie sehr du ihn vermisst, und mir fehlt er auch“, sagte Raziel trotzig, und bereitete sich innerlich bereits auf das Donnerwetter vor dass ihn für diese ‚Dummheit‘ erwarten würde. Doch die Schelte blieb aus. Amalia hielt einen Moment lang inne, und sie sah ihn mit ihren großen, haselnussbraunen Augen ganz seltsam an.
„Du bist ein guter Junge, Raziel. Ganz gleich was irgendjemand anders sagt, hör nicht auf sie; und lass dir nichts anderes einreden.“ Überraschend beugte sie sich zu ihrem Sohn herab und schloss ihn in die Arme. „Hast du das verstanden, mein Junge?“
„Ja Mama, aber-„ wollte er erwidern.
„Nein, kein ‚aber’. Ganz gleich was sie sagen – du bist ein guter Junge, vergiss das niemals, Raziel.“
„Das verspreche ich ja, Mama, aber…“
„Was denn?“, fragte sie, während sie ihn noch immer an sich drückte
„Mein Gesicht,“ erwiderte der Junge mit einem gequälten Grinsen, „es tut immer noch weh!“
„Oh“, sagte Amalia nur und ließ ihn los. Lächelnd griff sie nach dem nassen Tuch und nahm ihre Arbeit wieder auf, während sich Raziel erschöpft aufs Bett zurücksinken ließ.