Schattenreich


Jenseits des Grenzwalls, irgendwo tief in den geheiligten Landen des Ostens, schimmert in den ewig dunklen Wäldern ein einsames Lagerfeuer. Und in die andächtige Stille der Nacht webt sich der leise Gesang einer Frau.


Leis‘ flüstert Wind durch schwarze Weiden
streicht mit kühler Hand übers Moor.
Und aus den Gräsern unter den Eiben,
Schwingen sich dunkle Schatten empor.

Sei bereit – die Dunkelheit erwacht
Sei bereit – sie rufen diese Nacht
Sei bereit – der Schatten dunkles Kleid
berührt den Mantel der Zeit.

Dort wo die hohen, schwarzen Steine,
Segnen die Nacht und bannen das Licht.
Dort stehen sie wartend, harren sie deiner.
Spürst Du denn ihr Rufen nicht?

Sei bereit – die Dunkelheit erwacht
Sei bereit – sie rufen diese Nacht
Sei bereit – der Schatten dunkles Kleid
berührt den Mantel der Zeit.

Segnende Schatten in tröstlicher Nacht,
Heilige Reiter, schwarze Gestalten.
Führet mich fort mit des Gottkönigs Macht,
Nichts soll mich mehr gefangen halten.




Mondtag der 6. Oner 16 n.H.

„Leben entstehen und vergehen. Doch ein Schwur bleibt.“ So hast du es mich gelehrt. Und nun ist es vollbracht, Rovigo. Ich habe meinen Weg gewählt. Ich habe meinen Schwur getan. Jenen, der mein Leben und mein Vergehen, mein Streben und mein Streiten sein soll. Ich habe meinen Schwur getan.

Sie erschienen, als ich mich in der Umfriedung im Waffengang übte. Wortlos und ohne jeglichen pompösen Zierat waren sie erschienen. In einer stillen Schlichtheit voller Grösse. Einfache Reisende in den Augen der Verblendeten. Welch eine Ironie. Sie trugen mir auf, nach der Zusammenkunft zu jenem Ort zu kommen, an dem mein Weg begonnen hatte. Stille Feierlichkeit umhüllte ihre Worte und ich gehorchte. Oh, weh mir Rovigo, die Zusammenkunft der Gemeinschaft zog sich an jenem Abend in quälender Langsamkeit dahin. Augenblicke schienen wie Zyklen und die Lektion schien mir wie ein ganzer Mondenlauf. Doch schliesslich endete es. Und es begann.
In grösster Eile kleidete ich mich und zog aus gen Grenzwall. Die Torburg passierte ich noch im hellen Tageslicht, doch als ich meinen Weg durch die geheiligten Lande wählte, da begann der Tag sich allmählich vor der Nacht zu verneigen. Eine Allegorie dessen, was kommen sollte. In grösster Hast eilte ich dem Gebirgsmassiv entgegen, das mich am Horizont bereits mahnend grüssend willkommen hiess. Und schliesslich sah ich im Schatten des Gebirgsmassivs die Konturen des Ortes erwachen, an den man mich beordert hatte. Und er wartete bereits. Feierlicher noch als Worte waren seine Stille und so folgte ich ihm in stummer Demut. Verwirrend waren die Pfade, die er wählte, und doch hätten sie anders niemals sein können. Wie eine Metapher meines bisherigen Lebens, das in bizarren Windungen schliesslich sein Ziel gefunden hatte.
Als die Dämmerung einsetzte, erreichten wir unser Ziel. Und oh, Rovigo, es hätte glorreicher nicht sein können. Im sterbenden Licht des scheidenden Tages sah ich vor mir ein majestätisches Mahnmal der Vergänglichkeit aller Lügen. Ein Symbol für die Endlichkeit allen Seins und für die Ewigkeit des Wahrhaftigen. Der Ort war gekrönt mit mahnenden Manifestationen seiner Allmacht. In respektvollem Abstand wählten wir unseren Weg, bis wir schliesslich den Ort erreichten, an dem es geschehen sollte. Wir erreichten die Halle, als das Licht nur noch ein aufbegehrender, sterbender Funke war. Genug, um dies Mahnmal der Vergänglichkeit in all seiner Tragik zu erblicken. Dann erwachten die Schatten. Und die Wahrheit.
Als die Nacht den geheiligten Ort in Dunkel hüllte, trat er vor mich und begann mir den Anfang aller Wahrheit zu offenbaren. Nichts als die bitterste aller Wahrheiten. Und die Bürde. Denn noch während er erzählte, erschien hinter ihm jene seltsame Gestalt, in deren Blicken die Last und die Trauer einer ganzen Welt zu ruhen schien.
So vereinten sich am Ende diese drei zur heiligsten aller Allegorien: die Vergänglichkeit der Lüge, der Anbeginn der Wahrheit und die Bürde, beides erkennen zu müssen. Wahrlich, Rovigo, diese Nacht war geheiligt.
So geschah es denn, dass am Ende der Offenbarung mir die grösste aller Gnaden zuteil wurde. Als die Schatten sich zu majestätischer Grösse erhoben hatten, da kniete ich nieder und leistete im Antlitz von Vergänglichkeit, Wahrheit und Bürde meinen Schwur. Als die Schatten obsiegten, betrat ich ein neues Leben. Ein neues Reich. Schattenreich.

Wandeltag der 7. Oner 16 n.H.

„Erst wenn die Lichter erlöschen, lernt man zu sehen“. So hast du es mich gelehrt, Rovigo. Aber erst jetzt, da meine Reise begonnen hat, beginne ich den Sinn dieser Worte zu begreifen.

Seit diese neue Reise begonnen hat, beginnen auf der Bühne des Gauklers die Laternen zu sterben. Einst gaffte das Publikum, als der Gaukler seinen Tanz tanzte. Gierte nach diesem einen Fehltritt, der ihn zu Fall bringen sollte. Auf dass sie ihn darob zerreissen würden. Doch der Gaukler fehlte nicht. Und so wenden sich die gaffenden Bluthunde nun ermattet ab. Die Lichter der Bühne verblassen. Der Gaukler verliert sich im Schatten. Wohl getan.
Doch wie auf des Gauklers Bühne die Laternen vergehen, wie der Vorhang aus Schatten zu fallen beginnt, wie das Blenden des Possenspiels endet, da beginnt der Gaukler auf die Gaffer hinabzublicken. Still steht er da und beginnt zu sehen. Was vorher hinter grellem Schein verborgen lag, entblösst sich nun im erbarmungslosen Schein der Schatten. Als im Narrentheater des Lebens die Dunkelheit erwacht, erblickt der Gaukler die Konturen, die bislang hinter grellem Lichte wohl verborgen lagen. Des Publikums hurenhaftes Treiben, bislang versteckt hinter dem gleissenden Possenspiel ihres jämmerlichen Daseins. Und wie die Trugbilder ihrer falschen Lichter vergehen, bleibt nichts zurück als nur die Wahrheit. Wie Marionetten zucken sie nun in grotesken Posen sinnlos einher, wie geführt von einer dem Wahnsinn verfallenen Hand, spottend ihrer selbst und gierend kreischend nach dem Licht, das sie verhüllen soll. Doch im Obsiegen der Schatten bleibt allein zu sehen ihr Fallen.

Das Leben, das ich bislang führte, edler Rovigo, verliert von Augenblick zu Augenblick an Bedeutung. Seit ich jene Bruderschaft gefunden habe, die dem Pfad der Wahrhaftigkeit folgt, kann ich mich endlich lösen von diesem Leben voller Lügen. Es abstreifen wie ein zu eng gewordenes Gewand dass doch nie gepasst hat. Nun, da mir gestattet wurde, im Kreis der Bruderschaft Fürsten und Gottkönig zu dienen, löse ich mich von Augenblick zu Augenblick mehr von diesem fremden Leben das einst meines war. Und – weh mir – von Zyklus zu Zyklus wird das lästerliche Treiben, das sich um mich herum vollzieht, grotesker. Die Gemeinschaft, derer ich mich vor einiger Zeit angeschlossen habe, hat einen neuen Lehrer. Ein Meister, der die Lernenden der Gemeinschaft führen und leiten soll. Und oh, das tat er! Jenen, die zu spät eintrafen, legte er nahe, sich inskünftig eine treffliche Ausrede auszudenken. Sie könne gern erlogen sein. Erlogen! Er forderte die Schüler auf, zu lügen! Doch mehr noch, edler Rovigo! Just im nächsten Atemzug beklagte er sich über den Mangel an Disziplin unter den Schülern! Wie sonst könnte man diese Groteske bezeichnen als ‚beschämend‘. Alsdenn tat ich eben dieses und ging.

Jenen, die diesem Schmierentheater folgen, wurde hingegen ein Aufstieg gewährt. Mit stolzgeschwellter Brust stolzierten sie in ihren neuen Gewändern in Brandenstein einher und dröhnten wichtigtuerisch um ihre neu erhaschten Bildchen, die auf ihren Wappenröcken prangten. Speichellecker, denen andere Speichellecker Brosamen vom Tisch ihres eigenen Schmierentheaters hingeworfen haben. Oh, sie erkennen nicht, dass sie hechelnd einem Trugbild nachäffen. Sehen sie denn nicht, dass sie in all ihrem Geifern und Ringen um Tätscheleien und Beförderungen sich selbst verlieren? Dass sie auf dem Götzenaltar ihrer Beförderungen all ihre Tugenden, ihre Ehre opfern? Wo Tugendhaftigkeit der Massstab eines jeden Tuns sein sollte, wird sklavisches Nachäffen zum Gebot allen Handelns? Weh mir, Rovigo, wie verloren ist diese Welt ?
Doch weiss ich wohl, edler Rovigo, dass unter des Fürsten und des Wahrhaftigen weise leitender Hand diese Welt dereinst errettet werden wird. So bleibt mir für den Augenblick nichts als die Bitterkeit für jene Marionetten des Schmierentheaters. Und die Freude im Wissen, dass sie durch des Wahrhaftigen Gnade dereinst errettet werden können. Oder vernichtet.



Endtag der 10. Oner, 16 n.H.

Das Spiel wandelt sich, Rovigo. Einst war es nur die bittere Maskerade eines einsamen Gauklers auf der Bühne seelenloser Gaffer. Doch der Gaukler ist in die Schatten zurück getreten. Hat seinesgleichen gefunden. Das Publikum hingegen ist nicht mehr länger im schützenden Rund des Theaters verborgen. Nicht mehr länger bestimmen sie mit hurenhaftem Geschrei die Schritte des Gauklers. Die Rollen haben sich verändert. Komplexer wurden sie. Wie ein filigranes, verwirrendes Gespinst miteinander verwobener Figuren. Wie das Spiel der Könige. Schwarz gegen Weiss. Zug um Zug. Lauerndes Taktieren. Finten und Paraden. Jäger und Gejagte. Wahrheit und Lüge. Im steten Wandel.

Der schwarze Läufer hat heute sein wahres Gesicht entblösst. Er hat seine Maske von sich gerissen und sich als weisser Ritter offenbart. Gerade rechtzeitig noch, ehe er in die zerbrechlichen Züge von Schwarz einbezogen werden konnte. Bitter? Das wohl. War man doch voller Hoffnung in sein Tun. Doch bitter ist der Weg aller Erkenntnis, Rovigo. Gerade im gefährlichen Tanz zwischen Schwarz und Weiss. Wahrheit und Lüge. So liess man denn den schwarzen Läufer voller Bitterkeit sich wandeln. Liess ihn ziehen. Allein was blieb war hilfloser Zorn. Ungestüm. Doch wohl gezügelt. Dem Wahrhaftigen sei Dank, er war wohl gezügelt. Denn nicht lange liessen Parade und Riposte auf sich warten:

Ein schwarzer Bauer erschien auf dem Spielbrett zwischen Wahrheit und Lüge. Er zog scheinbar harmlos mal hier hin, mal dort hin. Nicht ohne Bedeutung, doch ohne Hoffnung ihn in die zentralen Züge einbeziehen zu können. Welch ein Trugschluss! Oh Rovigo, noch immer lass ich es geschehen, dass ich mit den Augen der Gaffer sehe. Muss erst lernen, die Augen zu schliessen um wahrhaftig zu sehen. So auch hier. Denn was ich erst als Bauer erkannt hatte, entpuppte sich als schwarze Dame. Machtvoll. Im Hintergrund harrend. Doch schliesslich in die Taktik eingreifend. Dem schändlichen Wandel des schwarzen Läufers zum weissen Ritter folgten ihre Parade und Riposte. Erst stand die schwarze Dame nahe beim schwarzen König, doch raumgreifend sind nun ihre Schritte geworden und in ihrem Tun kommt sie der Rolle des schwarzen Ritters gleich, der mir so kostbar geworden ist.

So schliesst sich denn nun langsam der Kreis. Schwarze Dame. Schwarzer Ritter. Schwarzer Bauer. Immer enger. Um den weissen Ritter herum. Zerbrechlich noch. Kaum zu erahnen. Und wohl ahnt auch der weisse Ritter noch nichts. Wie könnte er auch. Er steht im grellen Licht von Weiss. Blendender Schein. Kann nicht sehen. Nie gelernt. Blind die feinen Konturen der Schatten übersehend. Zug um Zug. Bis zu seinem Fall.

Mittentag der 13. Oner 16 n.H.

„Schmal ist der Grat zwischen Tragödie und Komödie, zwischen Drama und Posse. Der Weise wird das eine vom anderen zu scheiden wissen. Der Narr wird dazwischen zugrunde gehen.“ So hast du es mich gelehrt. Seit ich diese seltsame Depesche erhalten habe, beginnen die Grenzen zwischen Drama und Posse zu verschwimmen. Macht mich das zum Narren, Rovigo? Oder kann ein Ding beides zugleich sein? Tragödie und Komödie?

Die weissen Ritter haben einen seltsamen Zug getan. Unerwartet. Unerklärlich. Gefährlich. Im ersten Moment schien es wie eine Komödie, dass sie den schwarzen Bauern zu umgarnen suchen. Ihn bei Weiss aufzunehmen suchen. Hat der schwarze Bauer sein Spiel wirklich so gut gespielt? Komödie? Oder wurde der schwarze Bauer enttarnt und der seltsame Zug von Weiss ist der erste Zug zu seinem Fall? Tragödie? Die Grenzen verschwimmen. Der schwarze Bauer wird zum Narr, der nicht mehr zwischen Drama und Posse zu scheiden vermag. Hernach gab es nur einen sicheren Zug. Jener zur schwarzen Dame. Und jener Zug erwies sich als der richtige. Als der einzige.
Die Geschichte der schwarzen Dame wies den Weg. Die Lösung war von schlichter Präzision. Ob Tragödie oder Komödie war nicht mehr von Bedeutung. Allein was zählte war der Weg des schwarzen Bauern. Der Weg, den die Geschichte der schwarzen Dame gewiesen hatte. Wahrhaftigkeit; der schmale Grat zwischen Tragödie und Komödie. Die Lösung so schlicht wie selbstverständlich. Kein Zögern. Kein Zweifeln. So macht der schwarze Bauer nun seinen nächsten Zug. Zwischen Drama und Posse. Auf schmalem Grat.




Sonnentag der 14. Oner 16 n.H.

„Vertrauen ist der Schierlingsbecher der Unbeschwerten“ hast du mich gelehrt. Und – weh mir – heut‘ habe ich von der süssen Bitterkeit dieses Schierlingsbecher gekostet. Und wäre beinah daran gestorben.

Ich wurde verraten, Rovigo. Verraten von jenen, denen der schwarze Bauer zu leichtfertig unbefangenes Vertrauen entgegengebracht hatte. Freunde nannten sie sich einst! Oh, welch ein Hohn! In schlecht sitzendes Lammfell gekleidete Bluthunde mit dem Wappen des Lehensbanners waren sie stets! Doch nicht nur diesem Verrat gilt mein Zorn. Sondern auch jenem Verrat, den ich an mir selbst begangen habe: allzu unbeschwert Vertrauen zu verschenken. Während ich hier sitze und den Federkiel im Zorn des Erlebten quetsche, versuche ich wieder und wieder zu verstehen, wie ich es hatte geschehen lassen können. Was war es, das die Bluthunde auf die Fährte gelockt hatte? Wo tat ich fehl? Weh mir, edler Rovigo, tausend Dinge streifen meinen Sinn und tausend Dinge verwerfe ich auch wieder. Gebete im Rund der Götzendiener? Stets ohne Makel wohl kaschiert. Apelle im Namen des Königs? König gesagt, Gottkönig gemeint. Fügsamkeit vor den Insignienträgern der Götzen? Gauklers wohl geübtes Spiel. Gehorsamkeit vor den Bannerträgern der Lüge und der Korruption? Stets gewährt. Waren es wirklich die beiden Lächerlichkeiten an jenem Abend? Die Bitte, das Wasser abschlagen zu dürfen? Das Magenknurren in der Kapelle? Oh ja, Rovigo, ich war unter ihnen in der Kapelle. Und es widerte mich an. Doch musste es sein um der Bluthunde willen. Einzig ein einfaches Magenknurren liess die Maskerade wanken. Genug für die Bluthunde? Weh mir, mein Sinn vermag es einfach nicht zu begreifen. Und doch geschah es. Eine Bitte, Wasser abschlagen zu dürfen und Magenknurren in der Kapelle hatten genügt, der Bluthunde Lefzen geifernd fletschen zu lassen. Dann begann die Jagd.
Ketzer nannten sie mich und banden mich wie einen daher gelaufenen Lump. Schon sah ich mich im Dienste des Gottkönigs fehlen und in Schande von den Bluthunden der Götzen zerrissen zu werden. Doch dann geschah ein Mirakel. Ein Diener der weissen Ritter erschien auf dem seltsamen Spielbrett und wies die Bluthunde in die Schranken. Mehr noch: er nahm mir meine Fesseln und bot mir Schild und Schutz. Rovigo! Ein Scherge der weissen Ritter schützte mich! Wieder suchte ich verzweifelt den schmalen Grat zwischen Tragödie und Posse. Und noch während ich ihn suchte, wand der Pfad sich auch schon weiter. Ein fiebriger Tanz war es, der mich von weissen Rittern zu weissen Priestern führte. Und alle sprachen mich am Ende des Pfades vom Vorwurf der Ketzerei frei. Ist Wahnsinn der einzige Weg, um nicht auf schmalem Grat zwischen Tragödie und Posse zu fallen? Denn was geschah war nichts minder als schierer Wahnsinn. Ein wahnwitziger, fiebriger Taumel auf schmalem Grat. Doch ich fiel nicht. Aber – oh – zu welchem Preis?! Den weissen Rittern musste ich Respekt zollen und vor den weissen Priestern in Demut das Haupt zu neigen. Der Lohn war mein Leben als Dienerin. Der Preis war das Besudeln meines Glaubens.

Ich habe überlebt, Rovigo, doch nun erst wird über mich Gericht gehalten. Mit dem Makel, den ich nun mit mir trage, will ich in dieser Nacht vor den Gottkönig treten und mein Leben in seine Hände legen. War der Preis, den ich zahlte, zu hoch oder war es wohl getan? Es soll richten über mein Tun. Ihm empfehle ich mich. Ihm zu folgen. Ihm zu dienen. Ihm zu Ehren.



Sonnentag der 14. Oner 16 n.H.

Es ward Gericht gehalten. Ich lebe. Und tue Busse. Drei Tage Schweigen, drei Nächte beten. Dank sei dem Gottkönig. Und Dank sei seinem schwarzen Ritter, der mir den Willen des Einen offenbart hat.

Und nun soll Schweigen herrschen.

In der erhabenen Stille einer majestätischen Halle liegt auf dem kühlen Steinboden verloren eine zusammen gekauerte Gestalt. Ihr Gesicht ist Blut besudelt. Die schlichte Robe aus grobem Wollstoff auf Bauchhöhe ebenso. Um ihre rechte Hand ist ein Stück Linnen gewickelt, durch das sich dunkelrote, sich langsam bräunlich färbende Flecken quetschen.

Quer vor ihr liegen ein Schwert und ein Dolch. Die Klinge des Schwertes geziert von dunklen Tropfen. Davor ein Dolch. Blutverschmiert.

Der Atem der Gestalt geht langsam, gleichmässig, flach. Ein seltsam tiefer Schlaf, den nur Erschöpfung bringen kann. Oder Erlösung.



Wandeltag der 17. Oner n.H.

„Sicher ist das Lamm nur unter Wölfen“. Ich habe diese, deine Lehre nie verstanden, edler Rovigo. Doch wenn ich nun in diesem fremden Wappenrock in diesem fremden Haus weile, dann beginne ich sie zu begreifen. Denn der einzige Weg, den Wölfen zu entkommen, war es, sich ihnen anzuschliessen. Vor wenigen Tagen, als mein Schweigegelübde mich noch band, geschah es. Meine Antwort auf das Angebot der weissen Ritter, mich ihnen anzuschliessen, wurde abgelehnt. Die Ablehnung abgelehnt! Die Erklärung, mich ihnen solange nicht anschliessen zu können, solange die Schmach, die die beiden Bannersleut‘ mir haben widerfahren lassen, nicht getilgt ist, ward wortreich abgewiesen. Erst wehrte sich das Lamm noch darob. Wollte den Wölfen in ihren gelben Wappenröcken gestenreich entkommen. Doch diese begannen schon misstrauisch zu werden, die Zähne zu fletschen. Das einzige was dem Lamm also blieb war, sich den Wölfen anzuschliessen. Und der heikle Tanz, dies ohne Schwur zu tun. Denn mahnend entsann ich mich stets der Geschichte der schwarzen Dame. Allein es gelang.

So sitze ich nun hier, inmitten gelber Wölfe, die mich voll lauernder Eifersucht beschützen. Ja, sie bewahren mich vor den Bluthunden, die draussen geifernd ihre Runden drehen. Doch im nächsten Augenblick schon können sich die gelben Wölfe gegen das Lamm in ihren Reihen wenden. Oh Rovigo, dies Spiel wird zu gross für mich. Zu sagen, ich verspürte keine Furcht, wäre eine Lüge. Und ich will nicht lügen. So suchte ich alsdenn in meiner kindischen Furcht beim schwarzen Ritter Rat. Und wahrlich sein Rat war streng und mahnend: in Dankbarkeit und Demut solle ich den Wölfen weiter folgen und den Willen des Gottkönigs erfüllen. Dies als Prüfung. Und als Gunst. So will ich denn in Dankbarkeit und Demut Prüfung und Gunst annehmen. Sie entweder meistern und zu seiner Ehr‘ obsiegen. Oder darin fehlen und gerecht darob gerichtet werden.

So schweig denn still, närrisch furchtsames Herz.



Endtag, 20. Oner 16 n.H.

Wahrlich seltsam sind die Wege, die der Wahrhaftige mich wandeln lässt, edler Rovigo. Es ist bereits einige Tage her, seit ich vor jenen Morotai habe treten dürfen, der mir den Weg des Schweigegelübdes gewiesen hatte. Für einen Abend im Dienste des Herren entband er mich von diesem Gelübde. Und nachdem ich ihm vom Lamm inmitten der gelben Wölfe berichtet hatte, hiess er mich in Treu und Glauben diesen seltsamen Weg weiter zu gehen, das Wappen weiter zu tragen, bis ich anders geheissen werde.
Oh, wie weise war stets des schwarzen Ritters Rat und so fügte ich mich voller Demut und Vertrauen in seine Order. Ich ging zurück in die Stadt der Verderbten und ergab mich in mein gottgewolltes Schicksal unter den gelben Wölfen. Voll misstrauischer Eifersucht hatten sie mich bereits erwartet und weiter ging dies groteske Treiben im drohenden Antlitz von Scheitern und Sterben. Im steten Tanz herum um die Abgründe von Lüge, Ungehorsam und Ehrlosigkeit.
Oh, Rovigo, und nun sitze ich hier inmitten der geheiligten Halle der Stille und bete zum Allmächtigen, dass ich am heutigen Tage wohl getan habe. Dass ich den Tanz herum um die Abgründe von Lüge, Ungehorsam und Ehrlosigkeit wohl getanzt habe. Denn es war der Zyklus der Entscheidung. Die gelben Wölfe bestellten mich heute in ihre Burg um in hochnotpeinlicher Befragung in mich zu dringen. In lauernder Strenge wurde ich von ihnen befragt und bereits erwachte in mir diese bittersüsse innere Ruhe, die einen erreicht, wenn man in eine Schlacht zieht, von der man nichts anderes als den Tod erwarten kann. Doch der Gottkönig fügte es anders.
Als in mir bereits die innere Stille nahen Todes keimte, als ich mich bereits in stummem Gebet dem Nahen des Richtspruchs fügte, da zogen die gelben Wölfe sich plötzlich zurück, bedachten mich in grösstem Wohlwollen und hiessen mich aufzustehen. Ich tat es. Und dann traten sie vor mich, zogen ihre Klingen blank und verkündeten feierlich, dass sie mich im Schwur auf ihre Art in ihre Gemeinschaft aufnehmen wollen.
Oh, weh mir, gerade noch dem Todeskampf der mir misstrauisch nachjagenden Wölfe entkommen, wartete nun ein noch grässlicherer Kampf auf mich. Es war ein Kampf, der nicht zu gewinnen war. Lehnte ich in diesem Augenblick ab, dann würde nicht nur neues Misstrauen erwachen sondern ich würde auch die Order des Morotai missachten. Fügte ich mich jedoch in ihren Schwur, würde ich mich auf die Pfade begeben, vor der die Geschichte der schwarzen Dame gewarnt hatte. Oh, in diesem Augenblick begann ich zu verstehen, dass unsere Pfade der Wahrhaftigkeit immer Pfade steter Prüfung sein werden: entweder im Namen des Gottkönigs wohl tun und obsiegen oder zu fehlen und zu fallen. Alsdenn dankte ich dem Gottkönig für diese Prüfung, ergab mich in Treu und Glauben in seine Hände und wählte meinen Weg. Ich wollte schwören. Auf den Gottkönig.
So fragten mich denn die gelben Wölfe „Willst du auf die Viere schwören, ihnen stets treu dienen und ihnen folgen?“ Und ich antwortete „Ich will auf meinen wahren Glauben schwören, ihm stets treu dienen und ihm folgen“
Dann fragten mich die gelben Wölfe „Willst du dem Königreich und seinem Gefolge die Treue schwören?“ Und ich antwortete „Ich will meinem König und seinen Dienern die Treue schwören.“
Und schliesslich fragten sie mich „Willst du der Ritterschaft die Treue schwören, auch wenn es dich in Morsans Hallen führen wird?“ Und ich antwortete „Ich will Ihm dienen, auch wenn es mein Tod sein soll.“
In diesem Schwur nun sollte es sich entscheiden. Würden die gelben Wölfe die wahre Bedeutung meiner Worte erkennen? Würden sie erkennen, dass ich auf ‚Ihn‘ und nicht die ‚Ritterschaft‘ geschworen hatte? Auf meinen Glauben und nicht auf die Viere? Auf meinen König und nicht auf ihr Königreich? Würde ich der Order des Morotai folgen können, ohne in der mahnenden Geschichte der schwarzen Dame fehl zu tun? Augenblicke troffen quälend schweigend dahin. Harren dem Tod. Harren dem Sieg.

Und es gelang.

Die gelben Wölfe vernahmen meine Worte und schon wie damals, vor dem Götzendiener, hörten sie nicht das, was wahrhaftig gesagt wurde, sondern nur das, was ihre tauben Ohren hören wollten. Ich ward aufgenommen in ihren Reihen. Der Befehl des Morotai war ausgeführt. Die Bedrohung aus der Geschichte der schwarzen Dame abgewehrt.

Und nun weile ich hier, in der geheiligten Einsamkeit dieser Halle, trunken von der erhabenen Stille gläubiger Andacht, schwelgend im Wissen um Seine segensreiche Nähe, genesend von der fiebrigen Groteske, die ich dank des Gottkönigs weise fügender Hand lebendig überstanden habe. Hier an diesem Ort schwinden Furcht und Maskerade. Hier endet die ewig wiederkehrende Hatz zwischen Jäger und Gejagtem. Hier kann ich ruh’n. Hier kann ich sein. Hier finde ich Zuflucht. Bis das grausame Spiel erneut beginnt.
Ich will nun etwas hier verweilen, Rovigo, voll süsser Dankbarkeit mich ins Gebet versenken. Und darauf hoffen, in dieser viel zu kurzen Zeit auf einige meiner Gefährten zu treffen. Vielleicht den Morotai mit seinem kostbaren Rat? Vielleicht die schwarze Dame in ihrer erhabenen Weisheit? Vielleicht den schwarzen Ritter mit all den Lehren, nach denen es mich so sehnsüchtig dürstet?

Oh Rovigo, tadle mich nicht der Schwäche, wenn ich dir hier heimlich gestehe, dass mir nach nichts so sehr der Sinn steht, wie im Rund meiner Gefährten zu sein. An ihrem Wissen, ihrer Weisheit, ihrem Rat zu lernen und zu wachsen. Viel zu kurz sind die kostbaren Momente, in denen ich bei ihnen sein darf. Ehe mich meine seltsam gewundenen Pfade wieder von ihnen nehmen. Hinaus in das kalte Spiel um Jäger und Gejagte. Hinaus in die Einsamkeit.

Wandeltag, 22. Oner 16 n.H.

Der Orkenpass und die geheiligten Lande der Stille liegen wieder hinter mir, edler Rovigo. Und mit jedem Schritt, den ich zurück in dieses grässliche Leben der Masken machen muss, lastet die Bürde des Verlustes schwerer auf mir. Die Sehnsucht nach dem, was ich wieder einmal hinter mir lassen muss. Viel zu kurz, viel zu kostbar war das Treffen mit der Morotai. Viel zu rasch verklungen ihr Rat, viel zu schnell geendet ihre Lehren. Ob ich ihre Gesellschaft vermisse? Oh ja, wahrlich das tu ich. So wie ich auch die Gesellschaft all der anderen misse. Zwischen den brüllenden Orkanen und der tobenden Gischt dieses quälenden Lebens der Masken sind mir die Zyklen im Rund der Gemeinschaft zu einem Hafen der Stille und der Klarheit geworden. Doch ach so selten sind die Momente, unter ihnen sein zu dürfen. Ich will mich nicht beklagen, edler Rovigo. Und doch ertappe ich mich immer häufiger dabei, wie ich nach einem Abend wie heute an unsere gemeinsamen Zeiten auf dem Festland zurück denke. Damals, als meine Pfade im Namen des Gottkönigs noch jung waren. Erinnerst du dich noch an all die Abende in dunkler Stille im Rund unserer Gefährten? Wie wir den kleinen Tempel im Süden für die grosse Messe vorbereiteten? Das Ritual des Erwachens für Hedren? Oder die Nacht der Tränen, als wir mit dem Blut der geweihten Götzendiener um Seinen Beistand für unseren Plan baten? Jenes seltsame Treffen, in dem wir unter der strengen Hand der Schwarzmagier einen viel zu kurzen Blick in die Mysterien der heiligen Rituale gewährt bekamen? Es waren Nächte voller Wunder, voll demütiger Andacht, voll kindlichem Staunen über eine majestätische, machtvolle Welt die wir gerade erst zu begreifen begannen. Oh, wie sehr ich sie vermisse.

Und nun bin ich hier, Rovigo, und man heisst mich Feradai. Doch ich weiss nicht einmal, was dieses Wort bedeutet. Es ist bislang nicht mehr als eine dürre Fassade, hinter deren Bedeutung ich noch nicht gedrungen bin. Was sind meine Pflichten? Was ist der Dienst, den ich zu leisten habe? Welchem Codex unterstehe ich? Welche Rituale habe ich zu tun? Welche Arbeiten in den Hallen der Gemeinschaft muss ich erfüllen? Welche Lektionen habe ich zu lernen? Ist der Befehl, in dieser Pagen-Maskerade den gelben Wölfen zu dienen, wirklich alles, was eine Feradai ausmacht?

Durch eine seltsame Fügung erfuhr ich, dass es neben der grossen Halle, die mir so kostbar geworden ist, noch einen anderen, geheimen Ort geben muss, an dem sich die Bruderschaft trifft. Doch wurde mir der Zugang verwehrt. Wieder und wieder frage ich mich, weshalb. Habe ich Fehl getan? Habe ich meine Pflichten vergessen? Weshalb verwehrt man mir ein Leben in der Gemeinschaft? Weshalb verwehrt man mir, zu lernen und zu dienen? Was habe ich getan? Doch wie häufig ich mich dies auch frage, die Antworten bleiben aus. Es ist wie ein Rätsel, ein Geheimnis, das seit meinem Schwur der Bruderschaft über mir schwebt. Ich trage wohl diesen seltsamen Titel, doch mehr als dieser Titel bin ich nicht. Weshalb? Was ist der Grund? Wo finde ich Antworten? Weshalb wandelt die Bruderschaft in dieser Isolation? Selbst vor ihren Feradai? Ich frage mich, ob diese Gemeinschaft der Abtrünnigen, vor der man mich gewarnt hat, Antworten dafür hat. Ja, ich weiss, ich soll mich von ihnen fern halten. Doch dies kann nicht der Weg sein, den der Gottkönig für mich bestimmt hat: nur ein namenloser Titel voller Fragen ohne Antworten zu sein, ohne Pflichten, ohne Weg. Oder liegt gerade darin meine Prüfung? Ist genau dies die erste Aufgabe einer Feradai? Aufzubrechen und zu suchen, anstatt zu verharren und zu warten? Ja! Rovigo! Dies muss es sein. Darin muss der Grund verborgen liegen, dass ich bislang zwar bei ihnen aber nie unter ihnen weilen durfte. Alsdenn soll nun genug des müssigen Verharrens sein. Ich will nun aufbrechen und das Mysterium zu ergründen suchen. Und der erste Schritt ist schon gewählt.



Sonnentag, 29. Oner, 16 n.H.

Ich beginne zu straucheln, edler Rovigo, ich kann es fühlen. Mein Dienst in dieser Narrenkluft der gelben Wölfe wird von Mal zu Mal schwieriger. Denn einer ihrer Leitwölfe hat Gefallen an mir gefunden. Der Allmächtige ist mein Zeuge, ich hasse ihn mit jedem Zyklus mehr, den er mir mit seinen lüsternen Blicken gegenüber steht. Ich habe versucht, ihm aus dem Weg zu gehen, doch der alte Wolf ist schlau. Ich habe versucht, ihn mit der kühlen Distanz einer Untergebenen zu begegnen, doch dieser Hurenbock denkt nicht mit dem Hirn, sieht nicht mit den Augen, hört nicht mit den Ohren; allein was ihn treibt sind sein Gemächt und die verderbten Gedanken, die ihm förmlich aus den Schweinsäuglein triefen mit jedem verhassten Blick, den er auf mich legt.
Zweimal bereits besudelte er meine Ehre, zwang mir in einem Moment der Unachtsamkeit seinen stinkenden Geifer erst auf Lippen, dann auf Ohren. Beide male liess ich ihn stehen in der Hoffnung, er würde endlich seine wurstigen Finger von mir lassen. Und ich schwöre im Namen des Herren, wird er ein drittes Mal zum Sklaven seiner verderbten Gedanken, dann wird es sein Tod sein. Oh, und wenn es so weit kommt, dann werde ich mit Freuden die Strafe der Bruderschaft entgegen nehmen dafür, dass ich einen Ritter ermordet habe.



Endtag, 5. Onar, 16 n.H.

Ich halte mich immer weniger in Brandenstein auf. Zu gross ist dort die Gefahr, dem alten Hurenbock im Wappenrock der Ritterschaft über den Weg zu laufen. Statt dessen verbringe ich meine Zeit nun immer häufiger in Falkensee. Der alte Hurenbock kommt dort nie hin, denn dort gibt es keine lüsternen Hafenhuren, kein williges Fleisch unzüchtiger Weiber, keine Aussicht auf willfährige Opfer seiner zügellosen Verderbtheit.
Und gerade darin entwickelt Falkensee seinen seltsame, einsamen Reiz. Es ist still dort, denn meistens liegt es verlassen unter Felas trügerischem Schein. Kaum ein Händler verirrt sich dort hin, das Banner bleibt dem Ort fern und auch die Ritter scheinen es zu meiden, weil es dort keine dankbaren Bewunderer ihrer geckenhaften Eitelkeit gibt. Statt dessen herrscht dort Stille, in der Gedanken sich klären können. Und die heiligen Lande sind nah. So tröstlich nah.
Und in Momenten stillen Nachdenkens gestehe ich es mir ein, dass ich insgeheim die Gesellschaft von einem dieser gelben Wölfe suche. Lavid nennt man ihn und erst schien er mir eine der üblichen, verblendeten Marionetten der Lügengötzen zu sein. Doch er ist anders. So seltsam anders. Natürlich ist sein Schädel voll der Lügen, die man ihm eingebläut haben muss. Doch inmitten all dieser Lügen findet sich bei ihm ein Gebaren, dass – ich vermag es kaum nieder zu schreiben – ehrenhaft zu nennen ist.
Als ich erst wenige Tage auf der Insel weilte, da traf ich in der Schänke zu Brandenstein auf einen grauhaarigen Kämpen, der mir mit seltsamen Respekt über die Tardukai erzählt hat. Sehr viel später erst erfuhr ich, dass er ein Ritter mit Namen Steiner war. Und umso mehr verblüfften mich darob die Worte, die er damals an mich gerichtet hatte. Doch heute beginne ich diesen Ritter zu begreifen. Beginne zu hoffen, dass selbst im verderbtesten Sumpf viergöttlicher Lügen einsame Blüten von Reinheit und Ehre gedeihen können. Wenn ich des Ritter Lavids Gebaren betrachte, dann beginne ich zu hoffen, dass er einer von jenen seltenen Blüten sein könnte.




Mondtag, 6. Onar, 16 n.H.

Ich diene mittlerweile hauptsächlich Sire Lavid, verbringe meine Zeit zumeist in Falkensee. Und zum ersten Mal seit ich die Maskerade des Pagenrocks angelegt habe, wird mir der Dienst nicht zur ständigen Qual. Es liegt eine unerwartete Erleichterung darin, nicht ständig der Verderbtheit der viergöttlichen Marionetten ausgesetzt zu sein, sondern bei diesem Lavid tatsächlich Reste von Anstand und Ehre entdecken zu können.
Ein Mann ist fast immer an Lavids Seite. Man nennt ihn Sarek und er ist ein stiller, alter Kämpe mit verschlossenem Gesicht und ernsten Augen, in denen man Wunden alter Zeiten und die Patina erlebten Leides erkennen kann. Ich stehe ihm mit Argwohn entgegen, denn er scheint gleichsam schlau wie unbarmherzig zu sein. Zumal ich mir gewiss bin, dass sich Lavid nicht mit hirnlosen Laffen umgeben würde. Sarek muss gefährlich sein. Ohne Zweifel.




Mittentag, 8. Onar, 16 n.H.

Oh Rovigo, etwas furchtbares ist geschehen. Ich habe Xavier wieder getroffen! Doch ist dieser Kerl, der sich zum Diener von Intrigen und Heimtücke gewandelt hat, wirklich noch der Mann, der mir einst teuer war? So fremd schienen mir nach all der Zeit diese Augen, in denen ich einst die Hoffnung auf Ehre und Anstand gesehen habe. So verschlagen sind diese Augen nun, dass mir Angst und Bang wurde. Und so wie seiner Augen Glanz sich trübte, so mischte sich das Gift der Hinterlist in seine Worte. Oh, weh mir, edler Rovigo, Radwulf beginnt den Verlockungen aus Macht, Intrige, Hinterlist anheim zu fallen. Immer tiefer ist er in diesen Sumpf gesackt und all die Worte – in Strenge wie in Milde – die ich für ihn fand, schienen unnütz hernieder zu fallen wie einsame Regentropfen auf glühend heisse Steine. Weh mir, Rovigo, Xavier ist nicht mehr. Allein was blieb ist eine Schlange die sich Radwulf nennt. Weh mir …

Mondtag, 11. Onar, 16 n.H.

Blut und Asche! Ich bringe diesen Sarek um! Ich schwöre bei meiner Ehre und der Wahrhaftigkeit des Allmächtigen, ich bringe ihn um! Wie kann in einem einzigen Menschen so viel Arroganz, so viel Überheblichkeit, so viel Besserwisserei liegen?! Doch ich entsinne mich deiner Worte, edler Rovigo, und versuche meinen Unmut zu zügeln, und dir zu erzählen, was sich zugetragen hat.
Im Versuch, an der Torburg zwei Wehrlose vor dem Angriff orkischen Gezüchts zu retten, nahm man mich gefangen. Ich besitze keine Erinnerungen mehr daran, doch erzählte man mir, dass man mich mehr tot als lebendig aus den schwarzen, stinkenden Klauen dieser Viecher gerettet hatte. Man erzählte mir auch, dass dieser Sarek dabei gewesen war, um mich aus der Gefangenschaft dieser Viecher zu befreien. Seltsam fürwahr, doch da es die Ehre gebietet, trat ich nach meiner Genesung vor ihn, um ihm meinen Dank zu entbieten. So, wie’s sich geziemt. Doch oh! Dieser Bastard! Nichts als arroganten Hohn fand er für mich! Versuchte mir den Unterschied zwischen Ehre und Dummheit zu erläutern und am Ende führte er mich mit einem heimtückischen, wortgewandten Trick vor wie eine dumme Bauersmagd! Ich sage dir, edler Rovigo, ich werde diesem Bastard das Herz aus der Brust reissen und vor seinen sterbenden Augen daraus Rothenbuchter Eintopf kochen! Oh dieser Hundesohn!




Wandeltag, 12. Onar, 16 n.H.

Schweig still, närrischer Geist, der du mir weiss machen willst, dass Wahrheit in den Worten dieses Bastards Sarek lag. Das kann nicht sein! Das darf nicht sein!




Mittentag, 13. Onar, 16 n.H.

Widerwillig habe ich den Zorn über diesen eitlen Geck nieder gerungen und mir ebenso widerwillig eingestehen müssen, dass er mit der bitteren Lektion, die er mir erteilt hat, Recht gehabt hat. Natürlich wird er das nie erfahren, denn das würde diesen grässlichen Kerl nur noch mehr in seiner Arroganz bestärken. Doch ich gestehe mir nun ein, dass seine Worte weise waren. Und niemand ist darüber mehr verblüfft als ich. Denn mit grösstem Widerwillen beginne ich mir einzugestehen, dass auch in diesem Mann vielleicht Reste von Anstand und Ehre verborgen liegen könnten. Natürlich tief vergraben inmitten von Schuttbergen aus Lüge und Trunksucht. Doch etwas ist seltsam an diesem Mann. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto seltsamer wird es.
So grüsst er zum einen nie im Namen der Viere. Ich habe es erst nicht bemerkt, doch er tut es tatsächlich nie. Natürlich bringt er den Götzendienern den gebotenen Respekt entgegen, doch scheint dies nicht dem verblendeten, hirnlosen Fanatismus zu entspringen wie bei all den anderen. Auch rezitiert er nie die leeren Floskeln falschen Glaubens daher, um ehrloses Tun mit einem dürren Feigenblatt zu verdecken, so wie es all die anderen immer tun.
Und wahrlich, es besteht auch selten Anlass dazu. Denn in all seiner Einsamkeit und seiner Verbitterung scheint mir sein Tun doch auf eine seltsame Art ehrenhaft zu sein.
Dann erstaunt mich noch sein Gebaren gegenüber den Schlangen des Lehensbanners. So wie Sire Lavid auch scheint er diesen korrupten, ehrlosen Schergen keinen wirklichen Respekt entgegen zu bringen. Natürlich lässt er sich dies nicht anmerken und ich habe es selbst erst durchschaut, als ich ihn aufmerksam beobachtet habe.
Und so scheint er auf eine merkwürdige Art selbst inmitten der Seinen stets ein Einzelgänger, ein Aussenseiter zu bleiben. Als ob er nicht den ausgetretenen Pfaden aus Machtgier, Irrglaube und hirnlos daher rezitierten Lügen folgen würde, sondern eigenen, stillen, geheimen Pfaden, die ihren Ursprung in alten Wunden, alten Zeiten haben müssen. Manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlt, wird sein Blick leer und ernst und er scheint weit fort in fernen Gefilden, an fremden Gestaden zu weilen. Ich frage mich, was ihm widerfahren sein mag. Doch was immer es auch war, es scheint ihm in gleichem Masse Einsicht und Bürde gegeben zu haben. So wie aus jeder Einsicht Bürde erwächst.




Endtag, 15. Onar, 16 n.H.

Radwulf treibt sich immer häufiger in Falkensee herum. Ich versuche ihm aus dem Weg zu gehen, doch er ist aufdringlich wie ein räudiger Köter. Immer eindringlicher versucht er mir sein Gift aus Hinterlist und Intrigen ins Ohr zu träufeln. Dieser Bastard hat gar behauptet, dass die Tardukai sein Tun gut heisst und ihn darin bestärkt! Diese Lüge! Die Tardukai wird ihm dafür die Zunge aus dem verderbten Hals reissen! Wie kann er nur einen Augenblick annehmen, dass ich ihm diese Lügen glauben werde! Die Tardukai – Manifestation aus Ehre und Wahrheit auf Taren, Treueste der Treuen – sie soll das Tun dieses intriganten Bastards gut heissen?! Niemals!
Radwulf hat sich heute versucht, bei Sarek anzubiedern. Doch im schlangenhaften Glitzern seiner Schweinsäuglein erkannte ich Radwulfs wahre Absichten. Sarek ist mir in der letzten Zeit auf eine seltsam verhasste Art ein Vertrauter geworden, also habe ich ihn vor Radwulf gewarnt. Er nahm es mit der ihm eigenen, üblichen Distanziertheit entgegen und verzierte das ganze mit einer seiner üblichen Sticheleien. Oh wie sehr ich mir manchmal wünschte, diesem Gecken den eitlen Kamm zu stutzen. Doch dann, nur Momente später, tut er dann wieder Dinge, die tatsächlich voller Ehre sind. Und immer mehr komme ich zur Überzeugung, dass dieser Sarek auf eigenen, seltsamen Pfaden wandelt. Abseits von Kirche, Lehen und selbst Ritterschaft. Er scheint seine Gefährten mit grösstem Bedacht zu wählen, scheint alles und jeden zu hinterfragen und ihn anhand seiner eigenen Regeln und Werte aus Anstand und Ehre zu prüfen. Und wer diese Prüfung nicht besteht, dem bringt er eine Fassade aus Höflichkeit entgegen, hinter der sich aber gänzlich ohne Zweifel Ablehnung verbirgt. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich vor seinem mir unbekannten Codex aus Ehre und Anstand bestehen möge.

Wandeltag, 17. Onar, 16 n.H.

Weh mir, Rovigo! War ich so verblendet? Oder ist die ganze Welt um mich herum verblendet?! Radwulf hatte recht! Die Tardukai heisst sein ehrloses Tun tatsächlich gut! Wie kann das sein! Oh, Rovigo, ich bin völlig verloren inmitten tausend Fragen ohne Antwort! Wie kann das zusammen gehen mit allem, was man mich über Ehre und Anstand gelehrt hat?! Wie kann man sich so einer hinterlisten Schlange wie Radwulf bedienen, ohne sich in diesem Tun zu besudeln?! Wohl wird es eine Erklärung geben, denn die Tardukai würde niemals etwas tun, das ohne Ehre ist. Und doch gebe ich zu, dass ich verzweifelt um diese Erklärung ringe und sie mir bisher versagt geblieben ist. Wie kann man treu den Pfaden der Ehre folgen und sich dennoch der Dienste eines räudigen Bastards wie Radwulf bedienen?!




Mittentag, 18. Onar, 16. n.H.

Ich wurde geprüft. Und ich habe bestanden. Knapp und nicht ohne Makel. Zu sehr habe ich mich im ersten Moment von Jähzorn und Hass leiten lassen und beinahe hätte ich inmitten verblendeten Zorns das schlimmste getan, was eine treue Dienerin der Bruderschaft tun kann: die Ehre zu vergessen. Doch der alte Hurenbock von Ritter lebt, das Gift wurde nie in die Phiole gelassen. Ich habe mich dem Auftrag entsagt und in der Zurückweisung des Befehls des Tardukai meine Prüfung gemeistert. Dank sei dem Allmächtigen für diese Prüfung. Und Dank für die Gunst, sie bestehen zu dürfen.



Endtag, 20. Onar, 16 n.H.

Radwulfs Treiben wird immer ärger. Und immer weniger verstehe ich es, wie die Tardukai dies Treiben gut heissen kann. Radwulfs wahnsinniger Taumel im Geifern nach Macht hat nun selbst mich erreicht und er beginnt, Gift und Lüge gegen mich zu verbreiten. Wahrlich, ich wünschte, ich könnte ihm das Herz aus der Brust schneiden, doch der Befehl der Tardukai war eindeutig. Ich soll Radwulf wirken lassen und ihm aus dem Weg gehen. Ha! Aus dem Weg gehen? Wie denn, wenn dieser Bastard mir auf Schritt und Tritt nachstellt wie ein räudiger Köter um mich zu verhöhnen und sein Gift zu versprühen! Immer häufiger erhalte ich nun Kunde, wie er meinen Namen besudelt. Bei den Vendells, diesem Abschaum den er nun Freunde heisst; beim Banner, bei dem er sich nun lieb Kind macht; an der Akademie, wo er Gift in aller Ohren träufelt. Wie lange soll dies Treiben nun noch gehen, edler Rovigo! Warum lässt die Tardukai zu, dass dieser Bastard meinen Namen beschmutzt; mich und die Bruderschaft durch seine Lügen in Gefahr bringt? Warum nur? Warum?!



Wandeltag, 22. Onar, 16 n.H.

Was niemals hätte geschehen dürfen, ist geschehen. Oh Rovigo, ist dies der Beginn meines Untergangs? Oder ist es jener Pfad, den Morotai Malith mich mit vorgehaltenem Schwert gelehrt hat? Sollte der Morotai am Ende doch Recht behalten in seinen Worten über die Kostbarkeit der wahren Liebe? Wie sehr bete ich darum, dass des Morotai Worte wahr sind. Denn wenn sie es nicht sind, wird meine Entscheidung, mir Sarek als Gefährten zu erwählen, mein Untergang sein. Und Sareks.




Sonnentag, 24. Onar, 16 n.H.

Es ist vorbei! Oh, edler Rovigo, endlich ist es vorbei! Nach all den Tagen und Nächten schwer getrag’ner Last habe ich heute das Narrenkostüm der Ritterschaft ablegen dürfen! Die Order der Tardukai war ebenso schlicht wie kostbar: es wurde mir gestattet, den Dienst bei der Ritterschaft aufzugeben. Und mit wieviel Freude kam ich diesem Befehl nach!
Der Weg war einfach: ein Gespräch mit dem Götzendiener der Hure, um alles vorzubereiten. Und dann das Gespräch mit dem gelbgewandeten Hurenbock der Ritterschaft. Die Erklärung, dass mich die Worte des Hochgeweihten dazu gebracht haben, waren ihm genug. Die Erklärung, dass ich fürderhin nur noch dem Glauben dienen will, nahm er sogar mit einer gewissen Genugtuung hin. Dieser Bastard! Dieser Hurenbock! Oh wenn er doch nur wüsste, wie gerne ich ihm das Gemächt abgeschnitten und es den räudigen Strassenkötern zum Frass vorgeworfen hätte. Doch er wird es nie erfahren. Er entliess mich aus den Diensten der Ritterschaft. Und nun bin ich frei. FREI!




Wandeltag, 27. Onar, 16 n.H.

Mit jedem Mal den ich ihm begegne, wird es schwerer, ihn nicht zu töten. Radwulf. Dieser Hurensohn brüstet sich nun schon mit all den Huren, die er sich in Brandenstein willfährig gemacht hat, um ihm auf seinem Weg der Intrige und Heimtücke dienlich zu sein. Und immer ärger verbreitet er Hetze und Lüge über mich. Ich spüre, wie sich der Strick um meinen Hals enger legt und auf dem Strick steht auf jeder einzelnen Windung der Seile der Name „Radwulf“. Ich habe versucht, Rat bei der Tardukai zu finden, doch sie scheint in wichtigen Missionen fort gereist zu sein. Und so bleibt mir denn nichts weiter, als voll von kaltem Hass schweigend untätig dem Treiben Radwulfs zuzusehen. Denn nichts wird mich dazu bringen, den Befehl der Tardukai zu missachten. Ich muss Radwulf in Ruhe lassen. Selbst in all seinem Ränkespiel gegen mich. Ist dies eine Prüfung, die die Tardukai mir auferlegt hat? Wenn es so ist, dann ist es die schwerste bislang.




Mittentag, 28. Onar 16 n.H.

Oh wie bittersüss ist doch der Trunk aus dem Schierlingsbecher der Liebe. Süss die kostbaren Momente der Vertrautheit. Bitter die Erkenntnis, dass dereinst der Tag kommen kann, in dem ich meinem Gefährten auf dem Schlachtfeld gegenüber stehen werde und sein Leben nehmen muss.
Wandler zwischen den Welten bin ich geworden, gefangen im verzweifelten Kampf, nicht im grotesken Tanz auf grässlich schmalem Grat zu straucheln. Gefangen zwischen meiner Heimat im Schoss der Wahrhaftigkeit Angamons und zwischen jenen unbekannten Gefilden reiner Liebe. Ein Tanz des Wahnsinns, dessen jähes, schreckliches Ende heute schon geschrieben steht. Und doch kann ich diesem grässlichen, wundervollen Tanz auf schmalen Grat nicht mehr entfliehen. Und so gewiss ich mir meiner Liebe zu Sarek bin, so gewiss bin ich mir, dass ich sein Leben nehmen werde, so es dereinst der Wille Angamons ist. Nun erst beginne ich die Geschichte der Tardukai zu verstehen. Nun erst vermag ich zu ahnen, welche Bürde sie auf ihren Schultern trägt. Nun erst beginne ich zu begreifen, dass alleine sie diesen furchtbaren Tanz nur allzu gut verstehen wird. Denn sie ist ihn einst selbst getanzt. Ob sie mir Rat weiss? Wegleitung? Wer sonst, wenn nicht sie?

Endtag, 30. Onar, 16 n.H.

Sarek hat den Bund der Tapferen wieder zum Leben erweckt. Ich beginne zu ahnen, dass er es aufgrund unseres Disputes getan hat. Ich vermag es selbst nicht zu erklären, warum ich ihn darum gedrängt habe. Vielleicht weil ich mir insgeheim wünsche, dass dieser seltsame, einsame Pfad, den Sarek geht, noch weitere Wanderer finden wird? Vielleicht weil ich mir erhoffe, dass Sarek zu jenen gehört, die, trotzdem sie im grellen Licht der Lüge wandeln, ihr nicht verfallen sind? Ich hoffe, dass man Drängen wohl getan war. Und dass die Auferstehung des Bundes weitere Seelen auf den Pfad führen wird, den Sarek geht. Denn auch er scheint ein Wandler zwischen den Welten zu sein.




Sonnentag, 4. Duler, 16 n.H.

Der Bund ist geschmiedet. Der erste Schritt auf langem Pfad ist getan. Ich bin Khetai. Ich bin Dienerin. Ich bin Schülerin. Dank sei dem Allmächtigen und Ehre sei dem Fürsten.




Endtag, 25. Duler, 16. n.H.

Oh welch ein Narr war ich doch! Habe ich jemals geschrieben, dass ich Sarek liebe?! Narretei! Seit der gestrigen Nacht, als ich im Tempel von Angamons Macht habe kosten dürfen, scheint es mir, als ob ich endlich aufgewacht wäre. Oh Rovigo, ich spüre unbändige Kraft in mir. Das herrliche pulsieren unbezwingbarer Überzeugung. Die erlösende Genugtuung, dass ich Werkzeug, Schwertarm der Wahrhaftigkeit sein darf. Das köstliche Schwelgen in den Traumbildern geschlachteter Ketzer. Die Vorstellung, wie ich ihnen die Herzen aus den noch warmen, zuckenden Leibern reisse, um sie vor ihre brechenden Augen zu halten. Oh, wie köstlich dieser Labsal gesegneter Träume doch ist. Wie süss das Sehnen mit dem Schwert Seinen Willen erfüllen zu dürfen. Ihre bleichen Knochen sollen brechen, ihr Gedärm soll die Gründe ihrer verderbten Gefilde besudeln. Ich will ihr Fleisch schmatzen hören, wenn meine Klinge sie schlachtet wie krankes Vieh. Ich will sie lehren, dem Willen des Allmächtigen und der Glorie des Fürsten niemals wieder zu trotzen! Des Wahrhaftigen gerechter Zorn soll über sie kommen und sie sollen weinen und wehklagen, wenn er ihnen in einem letzten Akt der Gnade die wertlosen Leben nimmt. Oh Rovigo, hinaus, hinaus will ich nun gehen, denn meine Klinge dürstet nach Ketzerblut! Lobpreis sei der Glorie des Allmächtigen! Ewige Ehr‘ dem siegreichen Fürsten!




Wandeltag, 2. Dular, 16 n.H.

Blut und Asche! Wie konnte mir nur ein derart lächerlicher Fehler unterlaufen! Ich hatte Radwulfs Leben schon in meiner Hand; bereit sein zuckendes Herz zu zerquetschen, es für immer zum verstummen zu bringen! Und dann kam der Ruf der Tardukai! Welchen Unterschied macht es, ob er die Waffe nun in der Hand oder am Gürtel hatte?! Er hat den Tod verdient. DEN TOD! Ich will sein Blut von meinen Händen triefen sehen! Ich will ihm die vergiftete Zunge aus dem Hals reissen und sie den Hunden zum Frass vorwerfen! Ich will das Blut aus seinen Adern rinnen sehen, sehen wie es das lächerliche Grün der Auen tränkt! Sterben soll er! Sterben!




Mittentag, 8. Dular, 16 n.H.

Müde, bin so müde, Rovigo. Kraft verlässt mich. Köstliche Kraft. Nur graue Leere bleibt. Oh wo schwindet sie hin, diese köstliche Kraft, diese segensreiche Überzeugung. Nein, nein … nicht fort … noch nicht … Tag um Tag wird es schwächer … werde ich matter … So müde … so müde … müde ..




Endtag, 10. Dular, 16 n.H.

Die Kraft kehrt langsam zurück, edler Rovigo, und doch bleibt eine bittere Leere zurück. Die vergangenen Tage scheinen mir wir ein verschwommener Traum. Und die Gedanken daran wandeln zwischen dunkler Sehnsucht nach dieser köstlichen Macht und einer närrischen Furcht vor dem, was ich tat. Oh weh mir, Rovigo, wie sehr wünschte ich mir, wieder von dieser unbezwingbaren Kraft kosten zu dürfen. So gross das Sehnen. So bitter die Leere.




Mondtag, 11. Dular, 16 n.H.

Ich habe einen Khetai gerichtet. Ich habe Darn gerichtet. Er ist gestrauchelt auf seinen Pfaden. Und dafür wurde er gerichtet. Doch an meinen Händen klebt viel mehr als nur sein Blut. An meinen Händen klebt die Wahrheit, die ich in seinen letzten Worten erkannt habe. Und wenn ich nun auf seinen aufgebahrten Leichnam blicke, dann erkenne ich den Pfad vor mir. So klar die Entscheidung zwischen den Worten des Morotai Malith und den Worten des Morotai Lunal. Die Wahl zwischen beiden Lehren ist gefällt worden. Ich werde Sarek verlassen um den köstlichen, dunklen Träumen folgen, die mich seit jener Nacht im Tempel nicht mehr los gelassen haben. Klarheit. Endlich Klarheit.