Lucianda


Mit einer schnellen Handbewegung wischte sich Lucianda beiläufig eine kleine Haarsträhne aus dem Gesicht und ließ aus leicht zusammengekniffenen Augen den Blick über die tosenden Wellen des Meeres schweifen. Die Goldensee brauste mit vollen Segeln ihrem Ziel entgegen, dennoch schien bereits eine Ewigkeit vergangen zu sein, seit die junge Kriegerin das stolze Schiff betreten hatte, um endlich ihrem Schicksal entgegenzusegeln, einem Schicksal auf einer fernen Insel, benannt nach der Höllenfahrt, die zu ihrer Entdeckung beigetragen hatte.
Ein leises Schmunzeln erfaßte ihr Gesicht, als sie daran dachte, wie sie noch vor nicht allzu langer Zeit mit allen Mitteln versucht hatte, sich dem ihr von Geburt an vorbestimmten Weg zu entwinden. Niemals, hatte sie sich geschworen, niemals würde sie diesem Viereinigkeits-Fanatiker Raziel dienen, niemals! Nicht nach dem, was damals vorgefallen war…

„Lucia!“ Die Zofe schlug entsetzt die Hand vor den Mund und wandte rasch ihren Blick von dem 10jährigen Mädchen ab, das den blutüberstömten Leichnam einer Katze in Händen hielt. Die kleine Lucianda stand reglos auf der niederen Veranda und betrachtete ein wenig verwundert abwechselnd die tote Katze und die in Tränen aufgelöste Magd.
„Was hast du, Mariae? Sie wollte die Vögelchen dort töten.“ Echte Verwunderung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, während sie auf ein kleines Nest in einem leicht über das Geländer ragenden Ast einer der in prächtigster Blüte stehenden Apfelbäum deutete.
„Wirf sie weg! Um der Götter willen, wirf sie weg und reinige deine Hände!“ kreischte Mariae panisch. „Vitama stehe uns bei! Friedhold! Holt den Priester Friedhold! Friiiiiedhold!“
Kopfschüttelnd starrte das Mädchen der händeringend nach dem Götterkundigen schreienden Zofe hinterher, während sie achtlos den toten Körper in ein nahes Gebüsch warf und sich lächelnd dem Nest mit den erst vor wenigen Stunden geschlüpften Jungen näherte. Langsam stützte sie ihre Ellenbogen auf den weißen Stein des Geländers und den Kopf in die Handflächen. Sie ignorierte das leicht saugende Geräusch, mit dem sich das frische Blut daraufhin in ihrem Gesicht verteilte und beobachtete mit leuchtenden Augen die nackten Vögel, die schrill nach Futter piepsten.
Bis Friedhold das kleine Zimmer mit der dahinterliegenden Veranda betrat. Im selben Moment, in dem sie sich umwandte und sein Gesicht sah, wußte sie, daß ihr etwas Schlimmes bevorstand.

Ängstlich kauerte sie in einer Ecke, die Wangen von Ohrfeigen und die Augen von Tränen gerötet. Sie war patschnaß und hustete immer noch Wasser, das sie eingeatmet hatte, als man sie mehrmals zur Reinigung in einen riesigen Bottich untergetaucht hatte. Direkt über ihr stand Friedhold, die Zornesröte ließ sein Gesicht beinahe grotesk wirken und seine stämmige Gestalt jagte dem kleinen Mädchen noch mehr Angst ein.
„Zügle deine Zunge, kleiner Bastard, das sind nicht die Lehren Bellums!“
Bastard. Wie sie dieses Wort doch haßte. Die Lust am geheimen Liebesspiel mit seiner Schwägerin hatte ihrem Vater dieses ungewollte Balg eingebracht, und da sie dennoch von hoher Geburt war, hatte man sie nicht einfach abschieben können. Also war sie in ihrem wunderschönen, aber einsamen Zimmer untergebracht worden, wo man gehofft hatte, das Volk und der Kleinadel der angrenzenden Ländereien würde sie vergessen.
Ganz langsam ballte sie die zarten Hände zu Fäusten und starrte trotzig zu dem Priester auf.
„Ja, was ihr und eure Götter mit Bastarden machen, wissen wir ja nur allzu gut. So wie Vitama, die sich mit ihrem Bruder vergnügt hat, wofür dann ihr Sohn zahlen durfte!“

Zerstäubtes Salzwasser umspielte ihr Gesicht, als sie langsam die Augen schloß und versuchte, nicht an die darauffolgenden Ereignisse zu denken. Sie hatte aus den vielen Blutergüssen gelernt, so wie sie aus dem langen Striemen gelernt hatte, der seither ihre Seite verunzierte. Ein wahres Musterkind an Götterfürchtigkeit war wie seit jenem Tag gewesen, ein gelehrsames Mädchen in Sachen Etikette und Bildung. Niemals wieder hatte sie jemandem widersprochen, niemals wieder auch nur ein Wort gegen ihre Lehrer erhoben. Doch insgeheim hatte sie Phantasien gehegt, wie sie eines Tages Friehold, den verhaßten Diener Bellums, zu einem Duell hätte herausfordern können, ihn mit ihren geheimen Studien der Kampfeskunst ehrenhaft besiegen. Er würde es sein, der einst vor ihr im Staube knien und um Gnade winseln würde. Doch wie so oft kam es anders, als sie es sich in ihren Tagträumen ausgemalt hatte.

„Herrin Lucianda! Herrin Lucianda!“ Die alte Mariae stürmte ins Zimmer, ihr Atem schwer und ihre Augen weit aufgerissen. „Euer Herr Vater wünscht mit euch zu sprechen!“
Langsam blickte das zur jungen Frau herangereifte Mädchen von ihren Studien auf und lächelt ihrer Zofe fromm zu. „Ich mache mich gleich auf den Weg, meine gute Mariae.“ Als sie sich wieder umwandte, um das Pergament mit Schwertkampftechniken zusammenzurollen und das Fäßchen Tinte wieder zu versiegeln, umspielte ein kaltes Lächeln ihre Lippen. So, ihr Herr Vater also? Nicht „unser Herr“, sondern ihr „Herr Vater“…
Nicht allzuschnell trippelte sie die weitläufigen, prunkvollen Gänge entlang bis zum Besprechungsraum, wo sie geziemlich innehielt und leise klopfte. „Ich bin es, mein Herr, Lucianda.“
Langsam trat sie auf sein Geheiß hin ein und ließ die Tür hinter sich leise ins Schloß gleiten, ehe sie verwundert stehenblieb und den Mann betrachte, der es sich neben ihrem Vater in einem der bequemen Sessel gemütlich gemacht hatte. Grunrich Fethrilbrecher, der Waffenmeister des Schlosses, stellte sie staunend fest, während sie nach höfischer Art leicht knixte.
„Keine Umschweife, Lucianda, ich will gleich zum Thema kommen, ohne mich mit unnötigen Formalitäten aufzuhalten. Du wirst von heute an Unterricht bei Grunrich nehmen.“ Und auf die weit aufgerissenen Augen der jungen Frau hinauf: „Es obliegt mir nicht, die Aufträge meines Fürsten anzuzweifeln, und wenn es sein Wunsch ist, dich als Knappe in seine Dienste zu stellen, so ist mir dies Befehl.“ Keinen Hehl machte er jedoch daraus, daß ihm diese Entscheidung mißfiel. “ Grunrich wird dir beibringen, was du im Umgang mit dem Schwert können mußt, um wohl den anderen in nichts hintendrein zu stehen. Ich will nicht, daß du unserer Familie Schande bereitest.“ Und mit dieser beinahe schon offenen Drohung winkte er sie mißmutig aus dem Raum.

*

Mit einem kalten Lächeln beobachtete sie einen Schwarm fliegender Fische, dessen Mitglieder hektisch nebem der Goldensee aus dem Wasser auftauchten, um kurz darauf mit einem leisen Platschen wieder in den Wogen zu verschwinden. Ein Stück weit hinter ihr versuchte gerade ein junger Elf einem Ork mehr als erfolglos nahezubringen, warum Vitama eine bessere Gottheit war als Be’rglum, während ein Stückchen abseits ein Bergzwerg auf einer Kiste stand und zum wiederholten Male den Inhalt seines Magens über die Reeling entleerte.

Ihre Gedanken schweiften wieder ab zu jener Zeit, als sie versucht hatte, einen Ausweg zu finden. Die Tatsache, daß sie dem allzu götterfürchtigen Fürsten dienen müssen würde, hatte ihr die Galle aufgestoßen. Sich still zu verhalten war eine Sache, den falschen Götzen indirekt zu dienen jedoch eine andere.
Doch kein ehrenhafter Weg aus ihrer Situation war ihr in den Sinn gekommen, und so war der Tag immer näher gerückt, an welchem sie schließlich mit einer kleinen Gruppe Geleitschutz zur Festung des Fürsten aufgebrochen war.

Das Lächeln auf ihren Lippen wurde seltsam friedlich, als sie daran zurückdachte, wie ihre Ehrenhaftigkeit in diesen Tagen letztendlich zu jener entscheidenden Wende in ihrem jungen Leben geführt hatte, von der an ihre Existenz plötzlich wieder einen Sinn bekommen hatte. Sie wußte nicht mehr, was es gewesen war – das unumstößliche Ehrgefühl des Fürsten, seine mitreißend fanatische Ausstrahlung oder einfach nur die Tatsache, daß er sie mit dem Respekt und der strengen Güte behandelt hatte, die man ihr in ihrem eigenen Haus nie hatte zukommen lassen. Jedenfalls war all der Zorn und die Ablehnung ihm gegenüber schon nach wenigen Tagen verraucht, und wenige Wochen später hatte sich der einst verhaßte Viereinigkeits-Fanatiker zum Zentrum ihrer Loyalität entwickelt. Blutete ihr auch das Herz, wann immer sie mitansehen mußte, wie ihr Fürst zu den Götzen betete, so kam es ihr dennoch nie in den Sinn, ihm zu widersprechen.

Ihr Leiden und der ständige Zwiespalt zwischen absoluter Treue zu ihrem Herrn und dem Glauben an den Einen sollten jedoch ein jähes Ende haben. Einer seiner engsten Vertrauten war sie geworden, auf Schritt und Tritt war sie ihm bei seinem Tun zur Seite gestanden, und so war auch sie nicht im Schloß gewesen, als Frau und Kinder ihres Herrn bestialisch gemorden worden waren. Auch sie hatte diese schicksalshafte Tat nicht verhindern können, die zu jenen Änderungen führte, die auch den letzten Funken des Zweifels in ihrem Herzen zum Erlischen bringen sollten.

Anfangs war es ja nur das Gemunkel der Waschweiber gewesen, doch langsam hatte sich die Wahrheit herauskristalliesiert: Fürst Raziel war nicht mehr der, als den man ihn im ganzen Lande bewundert hatte.

Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, ehe ihnen die Inquisition auf den Hals gehetzt worden war und sie sich schließlich auf den Weg zu jener Insel gemacht hatten, die ihr Schicksal für sie bereithalten würde.

Doch für eines hatte sie sich noch die Zeit genommen vor ihrer Abreise. Mit starrem Gesichtsausdruck hatte sie das Schwert aus der Brust ihres Vaters gezogen, der sich ihr mit erhobenem Streitkolben in den Weg hatte stellen wollen, als sie das ehrwürdige Familienschwert aus dem Herrensaal seines kleines Schlosses geholt hatte, und dem alten Priester Friedhold verächtlich zugeschnaubt, als er mit bloßen Händen auf sie einschlagen wollte. „Zurück, alter Mann, ich tue nur, wie ihr mir die letzten Jahre geheißen habt. Ich diene meinem Fürsten, wie ihr es immer gelehrt habt.“ Nicht länger würdig war er gewesen, durch ihr Schwert den Tod zu finden, wie in ihren Wunschträumen vor scheinbar ewiger Zeit so sehnlich erhofft. Mit der Breitseite hatte sie ihn aus dem Weg gestoßen, das wenige Hab und Gut geschultert, das sie auf die Reise hatte mitnehmen können, und dann das Schloß verlassen. Noch lange hatten sie die Flüche des alternden Priesters aus einem der oberen Fenster des Schlosses verfolgt, bis sie schließlich nur noch ein kaum hörbares Wispern im Wind gewesen waren.

„Land in Sicht! Land in Sicht!“ hallte die Stimme des Schiffsjungen aus dem Ausguck über die Goldensee. „Da vorne ist Siebenwind!“
Ein Murmeln zog sich über das Deck des Schiffes, und plötzlich sammelten sich alle an einer Seite, um einen Blick auf das Ziel ihrer Reise zu erhaschen. Selbst der seekranke Zwerg taumelte hinüber.
Nur Lucianda blieb wo sie war. Sie brauchte die Insel nicht zu sehen, um zu fühlen, daß dort ihr Schicksal auf sie wartete.